Text: Barbara Becker & Benjamin Brouër
Dieser Text erschien ursprünglich in der fizzz #01-22. Für diese Veröffentlichung wurde er gekürzt und leicht angepasst. Die Printausgabe können Sie hier bestellen.
Das vergangene Jahr glich einem Zeitsprung. Die Begleiterscheinungen der Pandemie katapultierten die Branche in eine Gegenwart, in der das Geschäftsmodell Gastronomie neu definiert und erweitert werden muss. Jetzt gilt es, sich in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden, den Gastronomiemarkt nicht als bedrohten Lebensraum, sondern als brachliegendes Land zu sehen, auf dem neue Früchte gedeihen können: „Walk in“ ist nicht mehr genug, neue Absatzmärkte jenseits der Restauranttür müssen erschlossen und bedient werden, und auch die Standortfrage ist neu zu bewerten.
Mit enormer Anpassungsfähigkeit und großem Engagement hat die Gastronomie schnell auf die neuen Herausforderungen reagiert. Delivery-Flotten wurden aufgebaut (L’Osteria in Zusammenarbeit mit Sixt), neue digitale Handelsplätze für Gastronomiebetriebe und ihre Waren wurden geschaffen (The Good Taste). Die Gastronomie schickt als Genussbotschafter ihre Spezialitäten auf die Reise zum Kunden (The Ash mit eigenem Butcher Shop), betreibt einen Spezialversand für Genusspakete und Menüs (voilà) und holt die Gäste bei virtuellen Kochshows in die Restaurantküche.
Und der Markt nimmt die neuen Angebote neugierig an: Das Berliner Startup voilà gewinnt immer mehr Top-Betriebe als Kooperationspartner, und Berlin Cuisine macht inzwischen rund 60 % des Geschäfts mit digitalen Angeboten. Via Livestream kochen Profiköche für die Gäste von Firmenevents, die zuvor ein Paket mit Zutaten erhalten haben und online mitwerkeln. Innovative Gastronomiebetriebe nutzen den Handel als neuen Vertriebspartner für Produkte mit dem eigenen Gastro-Brand als Absender (Dean & David, L’Osteria, Time Flies Cocktails) und steigern neben der Absatzmenge auch ihre Markenbekanntheit. Die Gastronomie ist ihrem Ruf als innovativer Wirtschaftszweig mehr als gerecht geworden und hat zudem enormes Management-Know-how aufgebaut, das der Branche auch zukünftig einen Schub versetzen wird.
Arbeitgeberqualität wird zum Wettbewerbsfaktor
Nichtsdestotrotz wirkt Corona aktuell als Brandbeschleuniger für strukturelle Probleme: Die gesamte bisherige Kalkulation wird auf den Kopf gestellt. Steigende Waren- und Energiekosten treffen auf eine Situation des Personalmangels, die ebenfalls nur mit zusätzlichem Invest gemildert werden kann, um die aktuelle und zukünftige Handlungsfähigkeit der Unternehmen zu gewährleisten.
Die Personalknappheit, vermutlich das „Long Covid“ der Gastronomie, wird die Branche zukünftig vor neue organisatorische und finanzielle Herausforderungen stellen, denn ein Mitarbeitermarkt, der einen nahezu unbegrenzten Nachschub an Teilzeitkräften bereithält, gehört wohl erst einmal der Vergangenheit an. Die Mitarbeiter der Zukunft möchten überzeugt und gepflegt werden, sie wünschen sich einen Arbeitsplatz, der nicht nur ihren finanziellen, sondern auch ihren menschlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht wird. Arbeitgeberqualität wird zum Wettbewerbsfaktor.
Andererseits müssen die Mitarbeiter einem zunehmend flexibler werdenden Aufgabenbereich gerecht werden. Auch der Kunde ist anspruchsvoller geworden und will nicht mehr nur versorgt, sondern auch verführt, beraten und überzeugt werden. Der neue Gast kommt mit gesteigerten Erwartungen, ja Forderungen auf die Anbieter zu: Umweltverträglichkeit, Tierschutz und fairer Handel mit Transparenz in Einkauf und Verarbeitung stehen auf der Anforderungsliste. Dafür sind viele Kunden bereit, tiefer in die Tasche zu greifen. Das ist auch nötig, denn um Preissteigerungen wird die reell arbeitende Gastronomie nicht herumkommen.
Einen Schritt weiter in Richtung Klimaschutz auf dem Teller geht beispielsweise die Initiative „Zero Foodprint“, mit der jetzt auch Restaurants in Deutschland die heimische Landwirtschaft unterstützen können. Ein Prozent der Rechnung fließt in Projekte, die im wahrsten Sinne des Wortes Boden gut machen. Damit zeigt die Gastronomie Verantwortungsbewusstsein und spricht Gäste an, denen Nachhaltigkeit wichtig ist – und davon gibt es besonders in der jüngeren Zielgruppe immer mehr.
Mit solchen Projekten wird die nächste Evolutionsstufe ins Visier genommen: Die Gäste kommen ins Restaurant, bestellen Ihre Speisen oder kaufen Ihre Zutaten, weil es gut für die Umwelt ist. Die Gastronomie wird zum Trendsetter und Leitmedium für gesunden Genuss und ein nachhaltiges Leben. Themen wie umweltschonende Verpackungen, Kreislaufwirtschaft, Natur- und Tierschutz bieten hier jede Menge Ansatzpunkte.
Bekannt, beliebt, vertrauenswürdig, authentisch
Was sind Deine Werte und wofür stehst Du ein? Worin bist Du gut? Was ist Dein Markenzeichen, das Dich unverwechselbar macht? Diese Fragen müssen Gastronomen sich selbst, aber auch ihren Mitarbeitern und potenziellen Kunden beantworten. In einer Welt, in der Handel, E-Commerce und Gastronomieangebote immer mehr verschwimmen, ist eine starke Marke überlebenswichtig.
Das private Zuhause rückt weiter ins Zentrum des Lebens, wird zum Fitnessstudio, zur Shoppingmall, zum Büro und immer öfter auch zum Restaurant. Der Bildschirm wird damit zum Point of Sale. Kein Wunder, dass der Delivery-Markt heiß umkämpft ist. „Aktuell sind 70 % der deutschen Gastronomiebetriebe noch auf keiner Plattform vertreten“, sagt Andy Fang, Mitgründer und CTO von DoorDash. Das weckt Begehrlichkeiten. DoorDash ist die größte Lieferplattform der Vereinigten Staaten, hat die Mehrheit an Wolt übernommen und expandiert mit dem Start in Stuttgart nun erstmals in die EU. Das 2013 gegründete selbsternannte Technologieunternehmen will seine Partner mit Tools und Services unterstützen, online neue Kunden zu erreichen und dabei möglichst klimaneutral arbeiten.
Die letzte Meile zum Kunden erkennen viele als große Chance für die Gastronomie, und die Big Player stellen sich bereits darauf ein: Das Handelsunternehmen Globus lässt gekochte Speisen aus seinen Restaurants von Lieferando ausfahren. Starbucks kooperiert mit Uber Eats und bringt Kaffeespezialitäten zu den Konsumenten nach Hause. McDonald’s hat seine 3D-Zukunftsstrategie formuliert und setzt auf Digital, Delivery und Drive in. Zusatzverkäufe werden über die App getätigt, die auch Gutscheine ausspielt und den Bestell- und Bezahlvorgang optimiert.
Jeden Tag ein Twist
Wer das Haus verlässt, wird zukünftig möglicherweise eher in der Nachbarschaft bleiben: Die „15 Minuten City“, in der alle relevanten Einrichtungen innerhalb kurzer Zeit erreichbar sind, ist ein Ansatz, der von Stadtplanern bereits umgesetzt wird. Der Kiez, die Straße, der Wohnblock werden zum neuen Biotop, das durch Nachbarschaftsgastronomie, Deli oder Kiosk komplettiert wird. Hier wird es einige neue, attraktive Standorte geben.
Ein Erfolgsbeispiel ist das mitten in der Pandemie im Kölner Stadtteil Sülz eröffnete „Deli Sülz“, das sich als Ganztagesversorger bereits fest etablieren konnte. In Frankfurt starteten die beiden Gastro-Unternehmer Luel Mulugeta und Guy L. Lamaye schon 2016 mit dem „Elaine’s Deli“ (mehr dazu in der fizzz #03) ihre Erfolgsgeschichte. Inzwischen sind andere Konzepte dazu gekommen, das gesamte Unternehmen ist ein Paradebeispiel für modernes Brandbuilding und geschickte Risikostreuung. Das Spektrum der mittlerweile sechs Locations reicht von der exklusiven 12-Quadratmeter-Espresso-Aperitivo-Bar über Classy-Day-Bar bis hin zu exquisitem Urban Fine Dining.
Die Vielschichtigkeit dieser Beispiele liefert auch genug Spielmasse für den ultimativen Tipp, den Strategieexperten in unruhigen, schnelllebigen und unbekannten Märkten, wie wir sie heute vorfinden, empfehlen: Entwickeln Sie eine Experimentierkultur, testen Sie jeden Tag einen kleinen konzeptionellen Twist. So entwickeln Sie ihr Business Stück für Stück weiter. Feiern Sie die Erfolge und feiern Sie auch gescheiterte Projekte als Erkenntnisgewinn. Jetzt ist die Zeit der mutigen Strategen, experimentieren Sie sich in die Zukunft!