Text und Interview: Mia Bavandi
Bitter ist das neue Süß, tönt es aus den Gazetten. Es scheint tatsächlich so. Die Kräuter in den Supermarktregalen werden immer mehr und neuerdings wird die Bitterkeit sogar als pulverisiertes oder tröpfchenweise verabreichtes Nahrungsregulativ in Drogerieregalen angepriesen. Schon im Mittelalter hatte man Kunde von der gesundheitsfördernden Wirkung der in Kräutern und Wurzeln enthaltenen Bitterstoffe. Heute sind Kräuterliköre, Halbbitter und Bitter Genussmittel und tun doch gut. Doch was macht die Bitterkeit mit uns? Wie nehmen wir sie wahr, und warum darf die Bitterness an keinem Bartresen der Welt fehlen? Das verrät uns der Schweizer Sensorik-Spezialist und Kulinarik-Experte Patrick Zbinden in einem bitternötigen Austausch über den bitteren Aspekt.
Fizzz: Kräuter und Bitter zählen zu den beliebtesten Spirituosen. Warum ist und war das schon immer so?
Patrick Zbinden: Derzeit ist bitter im Trend, weil immer mehr Menschen auf ihre Gesundheit achten und Bitterreize nachweislich das Immunsystem anregen. Der Trend hat aber bereits vor rund fünf Jahren Fahrt aufgenommen. Nachweislich ist seit geraumer Zeit Bittergemüse wieder in Mode gekommen, was unter anderem mit der (New) Nordic Cuisine zu tun hat, in der mit vielen bitteren Zutaten gekocht wird. Dies hat auch auf die Barkultur abgefärbt. Darüber hinaus werden seit dem Start der Serie „Mad Men“ die klassischen Cocktails wie Old Fashioned, Manhattan oder Negroni vermehrt getrunken, Cocktails, die bittere Zutaten beinhalten. Hat ein Cocktail oder ein Drink eine gewisse Bitternote, sei es auf Grund von Kräuterlikören/Amari, Bitter oder Cocktail Bitters, bekommt er dadurch eine gewisse Kantigkeit, und dies führt letztendlich zu einem spannenden Trinkerlebnis. Als Bartender sollte man sich damit auseinandersetzen und bei der Verwendung beispielsweise eines hocharomatischen Amari mit einer intensiv schmeckenden Spirituose dagegenhalten. Ein Kräuterlikör kann aber auch als Süßungsmittel beigegeben werden, um so die Zugabe von Zucker zu umgehen.
Fizzz: Welche Stoffe sind es denn, die Lebensmittel wie Kräuter bitter werden lassen?
Patrick Zbinden: Die Bitterstoffe lassen sich in vier Klassen einteilen, wovon die ersten drei Klassen gerade für Bartender von Interesse sind. In die Klasse der Isoprene fallen beispielsweise Hopfen oder Artischocken. Die Bitterstoffe der Alkaloide finden sich in Kaffee, Kakao oder Tee, und unter den Phenolen sind die in Grapefruit, Bitterorangen und wiederum im Tee enthaltenen Bitterstoffe zusammengefasst. Die Bitterstoffe der Klasse Glycoside sind in Zutaten für Drinks und Cocktails selten enthalten, aber beispielsweise in Bittermandeln, Kohl oder Raps.
Fizzz: Wie nehmen wir die Bitterstoffe wahr?
Patrick Zbinden: Wir haben 25 verschiedene Rezeptoren, die den bitteren Geschmack erkennen. Zum Vergleich: für die Geschmäcker süß und sauer gibt es nur je einen Rezeptor. Die hohe Anzahl der Bitterstoffrezeptoren ist im Laufe der Evolution gewachsen und hat mit einem Schutzmechanismus des Stammhirns zu tun, um uns vor gefährlichen, giftigen Stoffen zu schützen.
Bereits vor 80.000 Jahren hat der Mensch nachweislich auf Bitterstoffe zu seinem eigenen Schutz empfindlich reagiert. Deshalb mögen heutzutage Kinder meistens keine bitteren Lebensmittel. Erst in der Pubertät lernen wir, dass Bitterkeit nicht zwingend giftig sein muss. Grundsätzlich: Bitter nehmen wir ganz banal als bitter wahr, obwohl es tausende verschiedene Arten von Bitterstoffen gibt.
Fizzz: Das bedeutet, das Gehirn kann die Bitterstoffe an sich nicht differenzieren?
Patrick Zbinden: Ja, unsere Geschmacksrezeptoren für bitter erkennen keinen Unterschied. Zwischen den Geschmacksrezeptoren gibt es aber Interaktionen. Für die Wahrnehmung des bitteren Geschmacks sind zwar eine Vielzahl an Rezeptoren verantwortlich, trotzdem ist die Wahrnehmung erstaunlich unspezifisch.
Fizzz: Gibt es ein praktisches Beispiel dafür?
Patrick Zbinden: Ja, mit folgendem Versuch lässt sich die Interaktion verschiedener Bitterstoffe erleben: Zuerst nimmt man einen Schluck Pfefferminztee und konzentriert sich auf die Bitterkeit des Tees. Danach isst man etwas Chicorée, gefolgt von einem Schluck Pfefferminztee. Achtet man nun auf die Bitterkeit, reagiert die Zunge hypersensibel auf den Bitterstoff Lactucopikrin, der im Chicorée enthalten ist, mit den Bitterstoffen der Pfefferminze. Schlussendlich schmeckt der Tee sehr intensiv bitter. Aber wir können nicht beschreiben, dass es die Bitterkeit von Chicorée ist. Nur die begleitenden Aromen können wir schmecken. Ein guter Test, der aufzeigt, dass bitter nur bitter schmeckt, aber in unterschiedlicher Intensität wahrgenommen wird.
Fizzz: Wieso lieben wir sie trotzdem?
Patrick Zbinden: In der Pubertät beginnen wir die Bitterkeit im Kaffee, Tonic und Bier zu schätzen und erleben diese Getränke als Genussmittel, nicht als solche, an denen man sich vergiften kann.
Darüber hinaus sind etliche Bitterstoffe in geringen Dosen sehr gesundheitsfördernd. Das Gehirn erlernt dies und akzeptiert folglich, dass auch alkoholische Getränke mit bitterem Geschmack gut für die Verdauung sein können.
Fizzz: Apropos: Bitterstoffe sollen sehr gesund sein. Ist das beweisbar oder vielleicht nur ein Mythos?
Patrick Zbinden: Blickt man weit in die Geschichte zurück, angefangen bei der ayurvedischen Lehre, über Hippokrates oder Hildegard von Bingen, dann erkennt man, dass alle diese Kräutergelehrten oder „Gesundheitsbeauftragten“ dieser Epochen realisierten, dass Bitterstoffe gesundheitsfördernd sind. Speziell für Galle und Leber, beziehungsweise für den gesamten Verdauungstrakt. Der Vorteil von bitteren Zutaten in Verbindung mit Alkohol ist, dass die bitteren Zutaten einerseits so konserviert werden und zusammen mit dem Alkohol vom Körper sehr gut aufgenommen werden. Dasselbe gilt auch für viele Arzneimittel wie Hustensirup.
Fizzz: Kräuter- und Bitterspirituosen bilden doch auch ein wenig Regionalität ab. Ist das so?
Patrick Zbinden: Blicken wir nach Italien, ein Land mit einer großen Vorliebe für Bitterkeit. Bekanntlich lieben Italiener eine Vielzahl bitterer Getränke und Gemüse wie Radicchio oder Artischocken. Und jede italienische Stadt oder Region vom Aostatal bis nach Sizilien hat ihren eigenen lokalen Amaro. Doch nicht nur in Italien lassen sich die Kräuter- und Bitterspirituosen geografisch oder klimatisch aufschlüsseln. In den Bergregionen Europas entstehen alpine Amari aus Zutaten des Alpenraums. Diese basieren meist auf Wurzeln wie Enzianwurzeln, der Edelraute Génépi oder Wacholder. Während in der Ebene, speziell in Italien, Artischocke, Rhabarber oder Löwenzahn den Weg in die Flasche finden. In Sizilien oder Sardinien wiederum sind es mediterrane Kräuter wie Rosmarin, Salbei, Süßholz und vor allem Zitrusfrüchte, die für charakteristische Bitterkeit sorgen. Letztendlich werden die Produkte mit etlichen Kräutern, Samen, Blüten oder mit Gewürzen wie Sternanis oder Vanille abgerundet. Vanille ist übrigens ein gutes, bitteres Beispiel. Jeder, der sie schon mal pur gekostet hat, weiß, dass sie nicht süß, sondern bitter schmeckt.
Fizzz: Wie würden Sie empfehlen, Kräuterliköre/Amari oder Bitter zu degustieren?
Patrick Zbinden: Optisch könnte man das Produkt nach Farbe kategorisieren. Hier gilt in der Regel: je dunkler, desto höher ist der Wurzel- oder Rindenanteil in einem Amaro beziehungsweise Kräuterlikör. Je heller, desto eher handelt es sich um ein Produkt mit hohem Kräuter- oder Pflanzenanteil. Grob lassen sich die Aromen beim Degustieren unterteilen in zitrisch, vegetabil, blumig und balsamisch. Nichtsdestotrotz: ein detailliertes Aromenprofil bei einem abgerundeten Amaro oder Kräuterlikör auszumachen, ist schwer und benötigt viel sensorisches Training.