Ausgabe 12/2019

»Mal verliert man, und mal gewinnen die anderen.«

ddw12/2019

Das Eingangszitat stammt zwar aus dem Fußball,
genauer gesagt von Otto Rehhagel, aber da dort
bekanntlich meist die Bayern gewinnen, wende
ich mich heute lieber der Europawahl zu, deren
Ausgang war spannender, zumal auch mehr als
eine Woche nach der Wahl noch lange nicht feststeht, wer
genau sich zu den Gewinnern zählen darf. Aus deutscher
Sicht gehören sicherlich die GRÜNEN dazu, zumindest auf
den ersten Blick. Die ehemaligen Revoluzzer der Anti-Atomkraft-,
Umwelt- und Friedensbewegung sind längst nicht nur
selbst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sie scheinen
auch drauf und dran zu sein, die Mitte der Gesellschaft
für sich zu gewinnen und damit den großen Volksparteien
Konkurrenz zu machen. Nicht selten erhalten sie dabei sogar
Rückenwind von den früheren Vertretern der Mitte. Etwa
dann, wenn diese eines der brennendsten Themen unserer
Zeit nicht konsequent zu ihrem eigenen machen oder,
schlimmer noch, wie Ex-SPD-Chefin Nahles
dem politischen Gegner sogar vorwerfen,
»eine rücksichtlose Klimaschutzpolitik auf
Kosten der Braunkohle zu betreiben«. Und
das zu einem Zeitpunkt, an dem jedem
klar sein konnte, dass die Nutzung fossiler
Brennstoffe nicht der Königsweg der Zukunft
sein wird. Ob hingegen der deutsche
Alleingang beim Atomausstieg oder die viel
gepriesene (aber nicht uneingeschränkt umweltverträgliche)
E-Mobilität ein solcher Königsweg sind und
ob wir in Umweltfragen nur mit Verboten weiterkommen,
lässt sich freilich auch bezweifeln. Das ändert jedoch nichts
daran, dass es den GRÜNEN im aktuellen Wahlkampf wie
keiner anderen Partei gelungen ist, die Stimmung im Volk
aufzugreifen und politisch für sich zu nutzen. So gewinnt
man Wahlen. Immerhin hält es mittlerweile die Hälfte der
Bundesbürger für unbedingt notwendig, sich mit den Folgen
des Klimawandels auseinanderzusetzen.
Wählern wie Politikern dürfte indes klar sein, dass mit den
meisten Stimmen noch lange nichts gewonnen ist. Erfolgreicher
Klimaschutz hängt nämlich weniger vom Wahlergebnis
als vom Verhalten jedes einzelnen Wählers und sogar Nichtwählers
ab. Davon wie er sich ernährt, sich fortbewegt und
wie offen er für Veränderungen ist. Doch selbst wenn das
aktuelle Votum keines unserer Probleme auch nur ansatzweise
lösen kann, wird es zumindest dafür sorgen, dass sich
einige Parteien kritisch hinterfragen – vorausgesetzt sie sind
nicht unbelehrbar und gehen mit Kritik nicht um wie Annegret
Kramp-Karrenbauer. Ihre Reaktion auf unliebsame
Stimmen aus den Sozialen Medien hat mich übrigens auch
an Rehhagel erinnert. Er prägte einst den Satz: »Jeder kann
sagen, was ich will.« Erfolgreichen Fußballtrainern lässt man
so eine Einstellung vielleicht gerade noch durchgehen, aber
beim Wahlvolk holt man mit dieser Sichtweise ganz sicher
keine Punkte.
Wo wir gerade bei »König Otto« sind: In Bremen, wo
Rehhagel große Erfolge feierte, wurde auch gewählt.
Die Hansestadt wird seit Kriegsende ausschließlich von
SPD-Bürgermeistern regiert. Erstmals erhielt jetzt aber ein
Kandidat der CDU die meisten Stimmen. Ob er damit tatsächlich
Bürgermeister werden kann, ist
noch nicht gesagt. Das entscheiden mögliche
Koalitionspartner. Während also
noch unklar ist, wer im Norden den Sieg
davontragen wird, kann man zumindest
aus gesamtdeutscher Sicht einen klaren
Gewinner des Wahlsonntags ausmachen:
die Demokratie. 61,5 Prozent
Wahlbeteiligung
sind der höchste Wert
bei Europawahlen seit 1994 und das in
Zeiten vermeintlicher Politikverdrossenheit.
Auch erfreulich ist, dass der deutsche
Protestwähler, anders als viele seiner
europäischen Nachbarn, sein Kreuz
nicht ausschließlich ins ultrarechte
Kästchen gesetzt hat. Das macht
uns alle zu Gewinnern. F