Der schnellste Weg ins Universum führe durch die Wildnis, hat der Naturwissenschaftler John Muir einst geschrieben, und man sieht ihn sogleich vor sich, wie er auf einem Felsen sitzt, in die Weite blickt und sich den Rauschebart vom Wind zausen lässt. Ach, der Mann war zu beneiden! Ende des 19. Jahrhunderts reichte kaum eine Straße in die großartige Natur Amerikas, und man konnte sicher sein, dass man am Ende seines Weges ungestört in einen Canyon hinein blicken konnte, allein mit sich und der allumfassenden Stille der Welt. Damit ist es leider vorbei.
Mittlerweile sind die meisten Nationalparks überlaufen, und selbst ein einst abgeschiedener Ort wie der „Horseshoe Bend“-Panoramapunkt im Norden Arizonas hat eine eigene Highwayausfahrt. Und einen fußballfeldgroßen Parkplatz. Auf dem geschätzt 60 Autos stehen, als ich eine Stunde vor Sonnenuntergang ankomme. Ach so – für alle, die jetzt noch kein Bild im Kopf haben: Horseshoe Bend heißt so viel wie Hufeisenbiegung, und wenn man von hier hinunter auf den Colorado River schaut, dann fließt der – genau: hufeisenförmig um einen roten Sandsteinfelsen herum. Das Panorama ist so archetypisch Südwesten und so wunderschön, dass es einem einen Schauer über den Rücken scheucht und Tränen in die Augen treiben kann. Anders gesagt: Würde eine Ansichtskarte Urlaub machen, sie käme genau hierher. Leider kann ich den Ausblick nicht genießen, dafür mache ich mir zu viele Sorgen, um die anderen.
Außer mir sind etwa hundert oder hundertzwanzig Leute hier, und von denen spielen etwa hundert oder hundertzwanzig mit ihrem Leben. Man muss wissen, dass die lang gezogene Abbruchkante des Canyons durch keinen Zaun gesichert ist – es geht einfach lotrecht in die Tiefe. Was offenbar ein prima Winkel ist, wenn man mit einem dieser schrecklichen Selfiesticks ein Urlaubsfoto schießen möchte. Die hundert bis hundertzwanzig anderen Besucher jedenfalls stehen allesamt sehr, sehr nah am Abgrund und halten diese Dinger in die Luft. Einige hüpfen beim Auslösen hoch und landen anschließend noch ein paar Zentimeter näher am Abgrund. Die Touristen aus Asien fotografieren nicht – sie filmen. Sich selbst, mit Actioncams an Selfiesticks. Diese kleinen Weitwinkelvideokameras waren ursprünglich mal dafür gedacht, sie vorne ans Surfbrett zu schnallen, aber das ist nur noch ein Randgruppeneinsatzzweck in einer Zeit, in der 78-Jährige ihre acht Kilometer lange Sonntagstour zwischen Bingen und Bacharach mit so einem Teil filmen. Die asiatischen Besucher jedenfalls halten ihre Stöcke in die Luft und plärren in Japanisch, Koreanisch und Kantonesisch. Und zappeln tun sie! Und immer näher an den Rand geraten sie! Irgendwann kann ich nicht mehr hinsehen und drehe mich um.
Nur, um in der anderen Richtung ein Liebespaar zu entdecken, das sich auf einer Steinplatte umarmt, die wie ein Sprungbrett über den Abgrund ragt. Bloß reden wir nicht von drei Meter Höhe und einem Schwimmbecken, sondern von 300 Metern und dem Colorado. Irgendwann macht es leise Plomp!, und die Sonne ist weg. Als sei das ein geheimes Signal, packen alle ratzfatz ihre Selfiesticks und Kameras ein und laufen unversehrt Richtung Parkplatz. Die nächste halbe Stunde sitze ich auf einem Felsen, allein, schaue hinunter zum Fluss und trinke kalifornischen Pinot, den ich mitgebracht habe. Auf dem Rückweg trete ich kurz darauf in stockfinsterer Nacht auf einen Stein und knicke um. Dabei verstauche ich mir den Knöchel, aber das weiß ich erst später. Zuerst einmal stürze ich auf den Weg, der Länge nach, ungebremst. Aber immerhin hatte ich vorher ein paar Minuten Ruhe.