Wein radikal anders

Martin Kössler
Martin Kössler fordert mehr konstruktives Miteinander statt Abgrenzung in ideologischen Nischen.
 
Wein hat sich in den letzten 100 Jahren radikaler verändert als in seiner 5.000-jährigen Geschichte zuvor. Wir scheinen uns dieses Wandels nicht wirklich bewusst zu sein. Jahrhunderte hat es gedauert, bis wir die alkoholische Gärung verstanden. Daraus entstand die Biochemie, die Reinzuchthefe und die technisch kontrollierte Weinbereitung.
 
Im späten 19. Jahrhundert zerstörte die Phylloxera Europas Weinberge weitgehend, viele uralte Rebsorten fielen der Pflanzenlaus zum Opfer. Um die Jahrhundertwende feierte Wein dann internationale Triumphe, doch die beiden Weltkriege und die Jahre dazwischen und danach waren eine harte Zeit. Es dauerte Jahrzehnte, bis man wieder bereit war, Geld für Wein auszugeben. Bis in die 80er-Jahre war deshalb Menge wichtiger als Qualität. Genossenschaften dominierten die Produktion, der individuelle Ausbau verlor an Bedeutung. Mit der Machbarkeit der Technik huldigte man jahrzehntelang dem Fortschritt, der in rasantem Tempo die Weine der Welt deformierte und uniformierte.
 
Erst der aufkeimenden Angst vor der Globalisierung, die sich um die Jahrtausendwende ausbreitete, verdanken wir jenen Wandel im Wein, der zur heutigen Spaltung des Marktes führte: Hier technisch uniforme, konventionell „gut” schmeckende „Banalweine“, wie sie die Selbstbedienungsregale und den Weinhandel der Welt in Masse dominieren. Dort, als Gegenreaktion, eine kompromisslos realisierte Individualisierung durch Spitzenwinzer, die durch Rückbesinnung auf Erfahrungswissen, biologischen Anbau und Abkehr von der Kellertechnik Weine nicht mehr für den Markt produzieren, sondern für sich und ihre Vision von Qualität. Der durch ein jahrzehntelanges Parker-Punkte-Diktat gelähmte Weinhandel scheint nicht die Kompetenz zu haben, diese Entwicklung seinen Kunden vermitteln zu können und so nimmt der Markt nur mühsam Kenntnis davon. Deshalb agieren seine Vorreiter in selbstgeschaffenen, ideologisch verbrämten Biotopen wie „Natural wine”, „Raw” oder „Orange wine”, statt konstruktiv zu einer neuen, bunteren Vielfalt des Weines beizutragen. Es liegt an uns, diese Entwicklung als die „andere” Qualität im Wein zu vermitteln. So viefältig, spannend und radikal anders war guter Wein noch nie. Welche Chance für seine Zukunft!
 
 
Martin Kössler
Weinfachhändler und Querdenker der Szene
K & U Die Weinhalle, Nürnberg

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

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Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

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Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote