Ausgabe 19/2020

Realitätsverlust
WEINWIRTSCHAFT 19/2020

… fällt nicht in die Tiefe, da ihn seine Mutter im letzten Augenblick an einem Zipfel erwischt. Glück gehabt. Die Mutter war sein Schutzengel, sie hatte den Ernst der Situation erfasst. Das ist der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Die einen dürfen und sollen spielen, die anderen bringen ihre Lebenserfahrung und ihr Wissen ein. 

Das scheint in der heutigen Zeit verloren gegangen zu sein. Auf YouTube-Clips und in Spaßforen wird dem Realitätsverlust gehuldigt. Als gäbe es keine Hindernisse oder die Schwerkraft, werden die unsinnigsten Stunts probiert, die skurrilsten Experimente gewagt, schwerste Verletzungen inklusive. Hauptsache man erregt Aufmerksamkeit. Dahinter muss eine gesellschaftliche Veränderung stecken, die sich in derart bizarrem Verhalten äußert. Es sind die Bilder einer digitalen Welt, die immer mehr den Blick auf die wirkliche Welt verstellen. Digital ist alles möglich. Das Wasser fließt bergauf, Grenzen verschwimmen, es gibt keine Mauern und Zäune. Viele glauben auch, dass alles machbar ist und jeder Millionär wird. Diese Wahrnehmung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse endet in Katastrophen. 

Ein beredetes Beispiel liefern unsere Politiker, die Geld ausgeben, das sie nicht haben und Generationen in Armut stürzen. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen sind ein Musterbeispiel für Maßlosigkeit. Das Virus ist ansteckend, aber für die meisten Menschen harmlos. Bisher haben sich weniger als 0,5 Prozent der Weltbevölkerung infiziert und ungefähr ein Tausendstel ist an oder mit dem Virus verstorben. Genau weiß es niemand, aber es gibt gefährlichere Bedrohungen der Menschheit. Was machen wir bei der nächsten Grippewelle? Gewiss, Abstand halten ist sinnvoll, was wir ja bei allen infektiösen Krankheiten tun, aber deshalb die ganze Gesellschaft lahmzulegen, ist maßlos überzogen. Wenn die Infektionen in Deutschland in dem Tempo weitergehen wie bisher, dauert es 150 Jahre bis eine Bevölkerungsimmunität erreicht ist. Derweil werden Existenzen vernichtet. Die Kollateralschäden an Menschen, Lebensjahren und Zukunftsaussichten sind unermesslich. Es ist ein Verbrechen an der Jugend. 

Aber es gibt den Realitätsverlust auch im Kleinen, dort wo es lächerlich, verblödend und trivial erscheint. Die Diskussion um die Änderung des Weingesetzes manifestieren einen solchen Realitätsverlust. Da wird ein Prinzip zum Gesetz gemacht, das so falsch wie richtig ist: »Je enger die Herkunft, umso höher die Qualität«. Das kann so sein, muss es aber nicht. Qualität und Schönheit entstehen im Auge des Betrachters. 

Richtig an der Reform ist sicher, dass der Herkunft im  Weinrecht mehr Beachtung geschenkt wird. Was ist so schlimm daran, die Wahrheit aufs Etikett zu schreiben und einen Wein zutreffend nach Lage, Ort oder Region zu benennen. Die heutigen Lagenabgrenzungen sind ein Lügengebäude. Entstanden in den 60er und 70er Jahren, aber daran will niemand die Axt legen. Zugleich wird die Bedeutung kleinräumiger Bezeichnungen vollkommen verkannt. Auf unserem Weinhandelskongress im Oktober werden die Konsumforscher einiges dazu sagen können. Unter Großlagen werden derzeit knapp 6 und unter Einzellagen etwa 8 Prozent der deutschen Weine vermarktet. Darüber schlägt man sich die Köpfe ein? Die geplanten Gesetzesänderungen bringen gar nichts, sagt selbst der Gesetzgeber, weder hinsichtlich der Preise noch der Mengen.

Stattdessen wurde wieder einmal die Chance verpasst, durch eine nachvollziehbare Differenzierung dem deutschen Wein im In- wie im Ausland neue Möglichkeiten zu eröffnen. Deutscher Wein bleibt von A bis Z Qualitätswein, vom Billig-Dornfelder für einen Euro bis zum Großen Gewächs. Dafür wird der Branche ein Regelwerk übergestülpt, da der Staat ja am besten weiß, welche Erträge man ernten oder welche Rebsorten angebaut werden sollten. Geht’s noch?! Das ist Realitätsverlust pur!