Siebeck ist tot

Man begegnet ihnen allen Ortes. In der U-Bahn, auf der Straße, mittlerweile sogar bei mir zu Hause – Deppen. Allen, die noch im Restaurant arbeiten, sei gesagt: Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf den Gastraum. Es ist viel schlimmer, denn es ist im reellen Leben angekommen. Wir sind umzingelt! Das TV scheint der Hort dieser Idiotie, die Kumulation allen gastronomischen Irrsinns. Es erlaubt den ungefilterten Blick in die kulinarische Seele Deutschlands. Naja, eigentlich geht es ja nur um die Abgründe. Zum Beispiel im Perfekten Dinner: Das Genörgel und Gezeter, wer dieses nicht isst und das nicht mag und dass der Gastgeber darauf achten müsse, das könne man ja schon erwarten. Fast wie früher im Restaurant: Sechser- Tisch einmal ohne Gluten, einmal Vegetarier, zweimal Halal und einmal ohne Knoblauch, keine Butter an die Fische plus offene Tuberkulose an Tisch 13. Im Restaurant zahlen die Leute viel Geld für diese Behandlung, geschenkt. In einem TV-Format, in dem ein Kotelett vom Grill mit Bratkartoffeln der Wochen-Sieger wird, ist das nur noch grotesk. Ein Volk von Schmierenkomödianten. 
 
Geschmacklich befinden wir uns also auf dem Niveau kurz hinterm Quastenflosser. Doch hoch oben auf dem Thron des vermeintlich guten Geschmacks sitzt er dann, der Deutsche Michel, und spricht oberstes Gericht: Schmecken muss es mir! Denn guter Geschmack ist etwas, den jeder für sich beansprucht. Das Totschlag-Argument Geschmacksache vs. Geschmack attestiert ihm jedoch vor allem eins: Geschmackliche Inkompetenz. 
 
Dieser unglaubliche Irrtum verbreitet sich wie Metastasen, man mag schon keine Leute mehr einladen, weil man für sechs Gäste mittlerweile sechs verschiedene Essen zubereiten muss – eine völlig verkehrte Welt. Früher lud man ein, heute muss man fragen, was denn überhaupt aufgetischt werden darf. Das ist nicht nur ein riesiger Irrtum, sondern sehr ungezogen. Das Schlimme ist: Es gibt niemanden mehr, der etwas dagegen sagt, weil man fürchtet, den Leuten auf die Schuhe zu treten. Sprüche wie „es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“, sind absolut autoritär, natürlich, aber gestorben ist da keiner dran. Und was man nicht mochte, schob man still auf die Seite des Tellers und alles war gut. 
 
Diese Zeiten sind vorbei, Wolfram Siebeck ist tot. Mäkeleien, so hieß das damals, gehören heute zur Individualität. In einer Welt in der in den letzten 50 Jahren mehr als 75% der Artenvielfalt unserer Lebensmittel durch industrielle Nahrungsmittelproduktion und Monokulturen verloren ging, wird die Auswahl immer kleiner. Niemals stand der Menschheit eine so große Menge sicherer Lebensmittel zur Verfügung. Dem gegenüber steht ein Volk von Verweigerern, Allergikern und sonstigen Unverträglichen. 
 
Das Problem ist: Wir werden ernährt von Leuten, die wir nicht kennen, mit Dingen, von denen wir nicht wissen, wo sie herkommen. Das ist schlimm, aber das ist Privatsache. Man darf den Mist nicht fressen, aber da muss man sich selber drum kümmern. Die Haltung, wie ein Patient in einer Privatklinik versorgt zu werden, funktioniert da nicht. Klingt nicht schön, ist aber so. 
 
Essen und Trinken ist die unmittelbare Chance mit unserer Welt in Verbindung zu treten. Durch reine Lebensmittel, durch Genussmittel oder als Politikum. Die Anteilnahme daran gestaltet meinen Horizont, nicht die Ausklammerung. Auf Basis der Geschmacksache lässt sich nunmal schwer über Geschmack streiten, denn es ist viel zu ruhig auf diesem Kanal, seit Siebeck tot ist.

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote