Ausgabe 25/2017

Seltsames Deutschland

Titel WW 25/2017

Die Klagen sind unüberhörbar. Während sich die Welt um Krisenherde, Naturkatastrophen, Feuersbrünste und sintflutartige Regenfälle sorgt, jammern die Deutschen über verspätete, beschädigte oder überhaupt nicht zugestellte Pakete. Es ist Weihnachtszeit und das Geschäft der Versender und Online-Shops boomt mehr denn je. Sie nutzen die Gunst der Stunde.
Auch die Weinversender spüren den Boom und so mancher, wie beispielsweise Wine in Black, erreicht erstmals einen Monat, in dem angesichts einer schwarzen Null die Investoren nicht auf morgen vertröstet werden müssen. Also alles in Butter? Wer sich die Mühe macht, kann den Frust der immer größer werdenden Schar »Versandgeschädigter« auf einschlägigen Online-Portalen nachlesen. Eine neue Spezies der Wutbürger scheint zu entstehen: Pantoffelhelden, die zuhause auf das Päckchen warten. Die Klagen wachsen scheinbar exponentiell, genau wie das Onlinegeschäft in den letzten Jahren. Die Paketdienste vom Schlag der Firmen DHL, GLS, DPD, Hermes oder UPS haben derzeit alle Hände voll zu tun. Die unterbezahlten Mitarbeiter mit auffallend häufig ausländischen Wurzeln, die im Rentenalter den Sozialkassen anheimfallen, sind genauso gefrustet wie die Kunden und Betreiber der zahllosen Online-Shops. Das Schwierigste im Online-Geschäft ist und bleibt die letzte Meile. Glaubt man entsprechenden Berichten, strebt Deutschland im Kaufrausch einem Auslieferungsrekord bei Paketen zu. Mancher Händler spricht gar davon, beim Kleben und Beschriften vom Päckchenwahn befallen zu sein. Es wird bestellt und versendet auf Teufel komm raus. Naja, wenn das dann mal alles stimmt. Eigentlich wäre das Gezeter zu ertragen. Glauben Sie mir, ich habe kein Mitleid, weder mit den Kunden, den Lieferanten, den Händlern noch den Zustellern. Denn das Ganze hat System und ist getrieben von Geiz und Gier auf der einen wie auf der anderen Seite. Mein Mitgefühl gilt den Unbeteiligten, die gleichwohl kräftig zur Kasse gebeten werden und den gesamten Wahnsinn mitfinanzieren.
Die Folgen bekommen alle zu spüren. Auch jene, die noch immer bei ihrem Händler um die Ecke einkaufen und damit eine Infrastruktur aufrechterhalten, deren Verschwinden am heftigsten von jenen beklagt wird, die selbst emsig im Internet nach billigen Schnäppchen surfen und sich über die Servicewüste mokieren. Die Folgen der unheilvollen Entwicklung sind unübersehbar: Alteingesessene Läden siechen dahin und sterben. Dafür gerät der Straßenverkehr vollkommen aus den Fugen, regional wie international. Manche Länder und Regionen wie beispielsweise Südtirol und Österreich greifen inzwischen zu drastischen Mitteln. Mittels Blockabfertigung wollen sie der unendlichen Lastwagenkarawane Herr werden, die sich durch die engen Alpentäler quält.
Nicht dass wir uns falsch verstehen. Ich habe nichts gegen Online-Handel, den Versand von Waren oder das Transportwesen und den LKW-Verkehr, aber es müssen für alle gleiche Spielregeln gelten und es müssen die Kosten in Rechnung gestellt werden, mit denen öffentliche und private Ressourcen beansprucht werden. Es darf nicht sein, dass lobbystarke oder hippe Branchen aus der digitalen Welt Welpenschutz genießen und auf Kosten anderer hochgepäppelt werden. Das Sozialdumping im Transportwesen, das Beanspruchen der Infrastruktur in Form unserer Autobahnen, Straßen und Plätze fürs eigene Geschäft, das in ganzer Perversion seinen sichtbarsten Ausdruck in den »Polensprintern« findet, torpediert unsere gesamte Gesellschaft und die freie Marktwirtschaft. Der Staat versagt auf ganzer Linie. Er sorgt nicht dafür, dass Angebot und Nachfrage ihren Ausgleich auf freien und transparenten Märkten finden und sich Preise bilden, die den wirklichen Kosten entsprechen. Ein System, für das Steuerzahler und die Allgemeinheit zahlen, in dem sich aber kleine Unternehmen einen Dreck um Arbeits- und Sozialstandards scheren und große Konzerne reich rechnen, fällige Steuern nicht bezahlen, wird gesellschaftlich und ökologisch in einer Katastrophe enden. Dazu braucht es keine Naturgewalten und Glaubenskrieger, das bringen wir schon ganz alleine hin.

Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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