Ausgabe 21/2020

Bis an den Abgrund

WEINWIRTSCHAFT 21/2020

Lieben Sie Briefe? Per Post kommen heutzutage meist nur noch Rechnungen und amtliche Bescheide, was die Freude, den Briefkasten zu leeren, in Grenzen hält. Ganz im Gegensatz dazu boomt das Paketgeschäft. Ein seltsamer Paradigmenwechsel an der Haustür: Waren im Tausch für Ideen und Gedanken? 

Persönliche Briefe bekommt man heute meist per E-Mail. Schade eigentlich, aber wenn die Zeilen sauber formuliert sind und klare Gedanken enthalten, sind sie dennoch Anregung und eine Wohltat für unsere kleinen grauen Zellen. Vor kurzem erreichte mich ein solcher Brief, pardon E-Mail, und ich war ganz wach und verschlang die Zeilen. 

Denn es war mehr ein Hilferuf und das Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit – aber auch eine Anklage wider staatliches Versagen. Das trifft meinen Geschmack. Nichts schlimmer als die Inkompetenz derer, die uns täglich weismachen, sie könnten alles regeln, und in Wahrheit chaotische Verhältnisse schaffen und hinter den vollmundigen Versprechen zurückbleiben.  

Der Autor des Briefes betreibt selbst einen Weinversandhandel und ist ehrlich genug, Kritik an der eigenen Branche zu üben. Worum geht es? Der Versandhandel mit Wein, und um nichts anderes geht es, wenn man von Onlinehandel mit Wein spricht, lebe in ganz erheblichem Maße auf Kosten der Gesellschaft, so seine Klage. Nicht nur, dass Geschäftsmodelle betrieben würden, deren einziges Ziel die Exit-Strategie der Gründer sei, die dann unbedarften Anlegern das Geld aus der Tasche ziehen und der Allgemeinheit ein Bettel Schulden hinterlassen. Es würden auch Dumpingpreise aufgerufen, die einen ruinösen Wettbewerb entfachen, der allen seriösen Händlern Schaden zufüge. Da sind die Onliner nicht besser als die Discounter, die mal wieder Primitivo Salento für 1,80 Euro verhökern oder Dornfelder für einen Euro – Echtheitszertifikate inklusive. 

Der Onlinehandel versündige sich jedoch in ganz besonderer Weise an den Dienstleistern, die für ihn tätig sind. Präziser gesagt, er versündige sich an den Mitarbeitern, die für die Paketdienstleister tätig sind. Die Menschen, meist ausländischer Herkunft, die dort arbeiten, werden nach Strich und Faden ausgebeutet. Die Folgen treten immer deutlicher zutage. »Wir haben uns im Versandhandel auf die radikale Ausbeutung der Versandsysteme spezialisiert, inklusive Überlastung der Mitarbeiter. Der Erfolg des Versandhandels beruht in weiten Teilen auf Ausbeutung«, lautet sein selbstkritisches Urteil.

Doch man muss den Gedanken weiterspinnen: Nicht nur die einzelnen Menschen werden ausgebeutet. Der Versandhandel betreibt sein Geschäft auf Kosten der Sozialversicherungssysteme und damit auf Kosten der Allgemeinheit. Die Folgen der Alterssicherung der unterbezahlten Billiglöhner werden zukünftigen Generationen aufgebürdet.

Das alles ist mehr als ungesund und Ausdruck einer Wirtschaftsblase mit verheerenden Folgen für die Gesellschaft – angetrieben von billigem Geld, das Geschäftsmodelle fördert, die sich nie und nimmer rechnen. Kein vernünftiger Mensch würde in derartige Aktivitäten Geld investieren, das er vorher erspart hat und um dessen Totalverlust er fürchten müsste. 

Doch wenn der Staat irreale Verhältnisse schafft und damit die Funktion von freien Märkten und einem fairen Wettbewerb außer Kraft setzt, die Funktion von Geld als Tauschmittel und vertrauenswürdiger Recheneinheit für Waren und Dienstleistungen ad absurdum führt, muss man sich über die katastrophalen Folgen nicht wundern. 

Einen etwas zwiespältigen Ausblick hatte mein Briefschreiber zum Schluss zu bieten, auch wenn er das für sein Gewerbe eher als Bedrohung fürchten müsste: In Zukunft sei mit drastisch steigenden Versandkosten zu rechnen. Das heize den radikalen Verdrängungswettbewerb noch mehr an, egal was es koste, bis an den Abgrund. Wir werden es erleben.