Ausgabe 21/2017

Existenziell

Titel WW21/2017

Die Vergangenheit holt jeden ein. Ist die kleine Ernte 2017 ein einmaliger Ausrutscher der Natur? Trägt der Klimawandel die Hauptschuld an der Produktionsmisere oder gibt es mehr und vielleicht ganz andere Ursachen für die seit Jahrzehnten kleinste Ernte? Die meisten werden sagen, die Miniernte ist den Unbillen der Witterung geschuldet: Früher Austrieb, Spätfröste, Hagel, Unwetter, Trockenheit, Hitze und zuletzt die Gefahr des Verderbs aufgrund von Krankheiten und Schädlingen sind als Hauptursachen verantwortlich und die sind in erster Linie dem Klimawandel geschuldet. Die Ernteeinbußen gegenüber dem langjährigen Mittel fallen je nach Land, Region und manchmal auch von Betrieb zu Betrieb ganz unterschiedlich aus. Sie reichen von ein paar Prozent im einstelligen Bereich bis zum Totalausfall. Mit der Schätzung der EU-Kommission für die 28 Mitgliedstaaten von europaweit 145,1 Mill. Hektolitern wird Wein in jedem Fall zur Mangelware: Mit heftigen Preissteigerungen und sinkender Verfügbarkeit einzelner Kategorien und Herkünfte ist zu rechnen. Eine Botschaft, die wohl noch nicht bei allen in der Branche und vor allem im Handel angekommen ist. Die Schuld ganz auf die Natur zu schieben, ist meines Erachtens zu kurz gegriffen. 2017 wird vermutlich als das erste Jahr in die Annalen eingehen, in dem sich der Strukturwandel im europäischen Weinbau so richtig bemerkbar macht.
Jahrzehntelang hat die Politik das Primat der familienbäuerlichen Strukturen hochgehalten und Sozial- und Wirtschaftspolitik sträflich vermischt. Statt Strukturen unter den Regeln freier Märkte entwickeln zu lassen, den Kräften von Angebot und Nachfrage zu vertrauen, die für stabile Verhältnisse sorgen, wurden künstlich überkommene Strukturen gefördert und zementiert. Statt dem Markt zu helfen, wurde gegen den Markt gehandelt. Der Weinbau wurde wie die gesamte Landwirtschaft zum Spielball von Verbands- und Lobbypolitik und unter Vorgabe hehrer Ziele in die Misswirtschaft geführt, von der inklusive machtbesessener Politiker nur einige wenige profitierten. Korruption und miserable Qualität wurde förmlich gezüchtet, in Deutschland genauso wie in Frankreich, Italien, Spanien oder anderswo. Produktionsanlagen inklusive Weinbergen wurden in den 70er und 80er-Jahren massenhaft angelegt, aufgebaut und wieder vernichtet. Das Geld ist fort, die Reste sind Ruinen an Bauten und Landschaften. Seit 2009 ist der Tropf neuer Gelder – nicht ganz, aber doch in großen Teilen – versiegt. In der Landwirtschaft braucht es halt einige Zeit bis Veränderungen in der Realität ankommen und sich bemerkbar machen.
Kein Winzer legt im Weinberg den Schalter um wie in der Industrie. Doch jetzt hat’s klack gemacht: Die Quellen sind ausgetrocknet, die für Destillation, Mostkonzentrate, Grundweine für billige alkoholische Getränke oder anderweitige inferiore Verwertungen produzierten. Ohne Schmiermittel aus Brüssel, sind auch im armen Süden Europas die Klein-Winzer nicht mehr Willens und in der Lage ihre Weinberge zu bewirtschaften. Das Beispiel Siziliens macht deutlich, was in weiten Teilen Europas die letzten Jahre ablief und auf Dauer für kleinere Ernten sorgen wird: 2009 verfügte die Region noch über 140.000 Hektar Rebfläche, die binnen weniger Jahre auf knapp unter 100.000 sank. Lag der Durchschnittsertrag dank Subventionen die Zucker und Menge belohnten bei reichlich 10.000 Litern pro Hektar, ist er qualitätsorientiert auf 4.000 Liter gesunken. Die Bestände sind aufgezehrt. Für die lange Zeit gewohnten 30 Cent pro Liter macht kein Winzer mehr den Buckel krumm, weder in Sizlien noch anderswo. Auch in den nächsten Jahren wird sich daran nichts ändern, selbst wenn das Wetter noch so bilderbuchhaft verläuft. Dafür hat sich eine neue Szene marktorientierter Weingüter entwickelt, die qualitativ hochwertige Weine produzieren und eine Zukunft hat. Wer weiter auf das alte System künstlich verbilligter Basisweine setzt, wird sich dagegen warm anziehen müssen. Die alten Kalkulationen tragen nicht mehr. Wer mitspielen will, muss in den Markt und die Produktion investieren. Das wird noch so manchen seine Existenz kosten.

Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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