Ausgabe 19/2017

Kein schöner Land
Titel WW 17/19

Muss man Mitleid haben mit den Briten? Ich glaube schon. Die Abstimmung haben rechnerisch zwar die Austrittbefürworter mit 51,9 zu 48,1 Prozent gewonnen, doch wenn man sich mal auf der Zunge zergehen lässt, dass exakt 17.410.742 Wähler für Austreten und 16.141.241 für Drinbleiben waren und die britische Bevölkerung 65 Mill. Menschen umfasst, dann spürt man Handlungsbedarf, wie man Kinder schützen will, die auf die heiße Herdplatte fassen. Also aufgepasst: Am 24. September finden die Bundestagswahlen in Deutschland statt, und wer nicht hingeht, darf sich später auch nicht beschweren.
Je länger die ungelöste Brexitfrage im Raum steht, die Verhandlungen, wie und unter welchen Bedingungen die Scheidung von den übrigen EU-Mitgliedern vonstatten geht, umso ungemütlicher wird die Situation für die britische Wirtschaft und die Bevölkerung. Das erste Halbjahr 2017 verlief nach Mitteilung des britischen Statistikamtes ONS »bescheiden«. Wie es in der Sprache der Statistiker heißt, erlebten die Briten eine »bedeutende Absenkung« des eh schon schwachen Wirtschaftswachstums. Als Gründe für die negative Entwicklung werden das schwache Pfund und die steigende Inflation herangezogen. Zwar fördert das schwache Pfund die Exporte und führt so zu einem historischen Tiefstand der chronisch hohen Arbeitslosenzahlen, doch denen, die Arbeit haben, frisst die Inflation Löcher in die Haushaltskasse.
Kein Wunder, dass die Briten inzwischen wie die Festlandseuropäer zu Schnäppchenjägern werden, und was könnte ein Händler Besseres tun, um sein Image als »lohnende Einkaufsquelle« aufzupolieren und sich fest in den Köpfen der Verbraucher zu verankern, als mit sensationell günstigen Lockvogelangeboten die Kunden in die Läden zu locken. Nach bewährter Manier hat Lidl das patente Rezept vor kurzem in seinen britischen Läden praktiziert und lange Schlangen an Kaufwilligen vor den Eingängen produziert, die für Prosecco für 3,33 Brit. Pfund (6 Flaschen für 20 Brit. Pfund) oder Champagner »Comte de Senneval« für 7,99 Brit. Pfund anstanden. Normalerweise kostet die Flasche Champagner 9,99 Brit. Pfund. Aldi UK verkauft seinen »Veuve Monsigny« Champagner für 10,99 Brit. Pfund und die Eigenmarke Belletti Prosecco Frizzante von Aldi ist für 5,25 Brit. Pfund zu haben. Kein Wunder also, dass die Kunden Schlange standen, um sich vermutlich mit ein paar perlenden Tropfen über das Brexit-Drama hinwegzutrösten. Der übrige britische Handel schäumt unterdessen vor Wut ob eines solchen Gebarens des deutschen Discounters und rechnet vor, dass Lidl angesichts von 20 Prozent Mehrwertsteuer und einer satten Alkoholsteuer auf Schaumweine von 2,77 Pfund ein Nettowert des Champagners von 3,89 Brit. Pfund übrigbleibt. Sie bezichtigen Lidl des Verkaufs unter Einstand, was angesichts von Traubenpreisen von 6 Euro/kg in der Champagne, der mageren Ausbeute und eines daraus resultierenden Wertes des Inhalts einer Flasche von 7,50 Brit. Pfund nicht von der Hand zu weisen ist. Sie bezichtigen Lidl das Weingeschäft im Vereinigten Königreich zu zerstören und sich einen Ruf als preiswerte Einkaufsquelle auf Kosten des übrigen Handels zu verschaffen. Andere werten die Aktion als reinen Marketing Coup, wie weiland Aldi seine Computer unters Volk brachte.
Es ist zum Schießen: Nach William the Conqueror im Jahr 1066 erobern Lidl und Aldi die Insel erneut und das mit dem deutschen Konzept ihrer stereotypen Discountläden, die wie das trojanische Pferd die Schlacht mitten ins Feld des Gegners verlegen. Auf der Strecke bleiben Wert und Qualität der Produkte, oder ist der Eierskandal schon wieder vergessen? Am Ende bleibt der Wohlstand genau der kleinen Leute auf der Strecke, die meinen mit dem Kauf billiger Produkte ein Schnäppchen zu machen. Nicht von der Verteilung des Vorhandenen lebt eine Volkswirtschaft, sondern von der Schaffung neuer und besserer Güter. Aber das braucht mehr als Schlange stehen und larmoyantes Verhalten, das Ausländern, Migranten, Andersdenkenden und überhaupt allem Fremdem die Schuld am eigenen Unglück und Versagen gibt.

Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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