Das beliebte Urlaubsland Türkei könnte bald zur Lieblingsdestination entdeckungsfreudiger Weinfans werden: Die türkischen Winzer erwecken ihre uralte Weinkultur zu neuem Leben. In der Millionenmetropole am Bosporus lässt sich die Dynamik am besten erschmecken.  

Kennen Sie das Lieblingsthema des Genießers, der aus dem Urlaub heimkommt? Der kleine, völlig unbekannte Winzer, der irrsinnige Weine macht“ und auf den man “rein zufällig durch die Empfehlung des Freundes vom Tavernen-Wirt” gestoßen ist. Solche Erzählungen können Sie zukünftig toppen. Sie kennen ein ganzes Land: total unbekannte Winzer, sagenhafte Weine, abgefahrene Rebsorten, in keinem Weinguide der Welt beschrieben. Wo das ist? Psst, Geheimtipp: die Türkei. Istanbul ist unser Tor zur türkischen Weinkultur. In der einzigen Stadt der Welt, die auf zwei Kontinenten liegt, verbinden sich nicht nur die prachtvolle osmanische Vergangenheit mit westeuropäischer Moderne, eine atemberaubende Kultur mit pulsierendem Leben, das Schwarze und das Mittelmeer. Hier finden auch Genießer kulinarische Reize des Orients und anderer Küchen und vor allem: die Weine der Türkei. Die sollen nun die Herzen (und natürlich Keller) der Liebhaber auch in Deutschland erobern.

Der Mann, der sich das vorgenommen hat, heißt Taner Ög˘ütog˘lu und ist Direktor von Wines of Turkey, einer Vereinigung der wichtigsten Weinerzeuger. “Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht”, lächelt Taner, während wir uns im Çiya beim schnauzbärtigen Musa Dag˘deviren über typisch anatolische Speisen hermachen. “Die schlechte: Der Weinkonsum in der Türkei liegt bei einem Liter pro Kopf und Jahr. Die gute: Er wächst.” Während wir einen raffiniert mit Lammhackfleisch gefüllten Bratapfel (Elma dolmasi) zerteilen – Musa, einer der bekanntesten Köche der Türkei, stellt die verfeinerte Küchentradition Anatoliens gegen modernes Fastfood –, koste ich meinen ersten Schluck Emir. Diese türkische Weißweinsorte erinnert mit leicht pflanzlichen, apfeligen Noten an Silvaner und durch ihre saftige Fülle an Weißburgunder. Wir schließen spontan Freundschaft: Emir ist der geborene Essenswein nicht nur zu Kreuzkümmel & Co. Im Kopf füge ich eine weitere gute Nachricht hinzu: Mit solchen Weinen müsste doch der Weinkonsum raketenartig steigen!

Doch wir sind in Istanbul, nicht in Hamburg. Die abendliche, wuselige Altstadt rund um das Çiya (im asiatischen Teil Istanbuls) mit ihren Parks, Fußgängerzonen, Cafés, kleinen Läden, Kebab- und Austernständen(!) vermittelt zwar ein Gefühl wie nur irgendeine Altstadt am spanischen oder griechischen Mittelmeer. Der szenige Stadtteil Kadıköy ist für seine malerische Straßenbahn und den Fußballclub Fenerbahçe – den ersten offiziell anerkannten Fußballclub der Türkei – bekannt. Leuchtreklamen und vertraute Shop-Logos verdecken leicht den Blick dafür, dass die Türkei ein großes Land ist, das tief nach Asien hineinreicht.
Seit Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei, der selbst gerne Wein genossen haben soll und den Weinbau 1925 legalisierte, gibt es Weingüter. Immerhin hat die Türkei die viertgrößte Rebfläche der Welt und kann mit einigem Recht für sich beanspruchen, eine Wiege der Weinkultur zu sein: Noah soll am Ararat den ersten Weinberg nach der Sintflut gepflanzt haben, Funde belegen eine sechs Jahrtausende alte Rebbautradition. Doch werden nur 70 Millionen Liter Wein gekeltert, der Rest dient der Tafeltrauben- und Rosinenproduktion. 700 000 Hektoliter schaffen Franken, die Nahe und Sachsen zusammen! Der Flächenriese – ein Weinzwerg.
Die Türkei ist ein laizistischer Staat, doch gehören die meisten Bürger dem Islam an. Und der Prophet hat den Weingenuss verboten. Selbst die Kulturhauptstadt des Jahres 2010 – Istanbul – wird sich deshalb kaum als Weinmetropole präsentieren. Alkohol ist mit hohen Steuern belegt, obwohl Rakı (aus Trauben oder Rosinen erzeugtes, mit Anis versetztes Destillat) als Nationalgetränk der Türken gilt. Für die meisten Türken ist Wein kein Alltagsgetränk. Taner Ög˘ütog˘lu und seine sieben oder acht Produzenten stehen vor einer Herkulesaufgabe.

 In Istanbul gibt es nicht in jedem Restaurant ein Weinangebot, wie man es bei uns kennt. Eine gute Adresse zum Kennenlernen ist der Weinladen La Cave in der Nähe des berühmten Taksim-Platzes (Stadtteil Beyog˘ lu im europäischen Teil Istanbuls), eines wahren Verkehrsknotenpunktes mit dauerhaften Staus. Taksim heißt so viel wie Wasserverteiler, denn Sultan Mahmud I. ließ einen solchen im 18. Jahrhundert hier, am Ende einer Kilometer langen Wasserleitung, errichten. Esat Ayhan, dienstältester Weinhändler der Stadt, betreibt sein Geschäft seit zehn Jahren. 50 Prozent seines Umsatzes macht der ruhige, freundliche Herr mit heimischen Weinen fast aller Erzeuger, den Rest mit Herkünften wie Übersee, “Italya”, “Fransa” und sogar “Bulgaristan” (leider nicht “Almanya”, außer Jägermeister!). Was ich noch lerne: Wein heißt türkisch s¸arap (Scharap).
Wer auf der herrlichen Terrasse des Restaurants Mikla – für viele eines der besten der Stadt – auf dem Dach des Marmara Pera Hotels die ungewöhnlichen skandinavischtürkischen Kreationen von Mehmet Gürs genießt und den Blick bis hinüber zur ehrwürdigen Hagia Sophia und zum Topkapi- Palast schweifen lässt, kann sich dem Zauber Istanbuls kaum entziehen. Wir fachsimpeln über die türkische Weinkultur, während wir einen leckeren Narince-Weißwein von Doluca schlürfen. Diese Sorte wird gerne mit Chardonnay kombiniert und übertrifft den Emir noch an Tiefgang und Potenzial. Sie wird etwa für die Linie “Kav” im Barrique ausgebaut.

Doluca ist eines der ältesten Weingüter der Türkei, dessen Gründung auf das Jahr 1926 zurückgeht. Nihat A. Kutman, übrigens ein “Geisenheimer”, pflanzte damals in der Gegend um Mürefte in Thrakien französische Edelsorten wie Cinsault, aber auch Riesling an. Eine Flasche hat Enkel Ali Kutman extra für den Besuch aus Deutschland mitgebracht. Der junge Oenologe, der im Napa Valley studiert hat, schnuppert am Glas und grinst: “Die Reben stammen, glaube ich, sogar aus dem Rheingau.” Der Doluca-Riesling ist gar nicht übel, doch lieber zeigt Ali seine Erfolgsweine “Serafin” und “DLC”, und wir sind auch neugierig auf die türkischen Rebsorten. Eine trägt wegen ihrer dicken Beeren den Namen Öküzgözü, was “Ochsenauge” bedeutet und beim Sprechen die Lippen zur Kussform zwingt. Die zumindest aussprachemäßig wohl erotischste Rotweinsorte der Welt schmeckt saftig-beerig und hat gut eingebundene Tannine.

Wer türkische Weine verstehen will, frage nach den Rebsorten. Denn genau begrenzte Anbaugebiete, wie wir sie kennen, gibt es (vorläufig) nicht. Daher muss man weder Appellationen noch Qualitätsstufen auswendig lernen. “Thrakien, der europäische Landesteil zwischen Istanbul und Griechenland, ist ein Schwerpunkt der Weinproduktion mit 40 Prozent Anteil”, erzählt Taner. “Aber es gibt auch viele Rebflächen in Anatolien, etwa an der Ägäis und in Westanatolien, auch in Zentral- und Südostanatolien, wo das Klima viel kontinentaler ist.”
 Im westlichen Anatolien gibt es nahe der Provinzhauptstadt Denizli zum Beispiel das Weingut Pamukkale, dessen Weine auch in Deutschland angeboten werden. Pamukkale heißt auch eine kleine Stadt mit berühmten Sinterterrassen (UNESCO-klassifiziert). Yasin Tokat, der Inhaber, ist stolzer Herr über 400 Barriques, in denen etwa die charaktervolle Cuvée Trio (aus Shiraz, Cabernet Sauvignon und Kalecik Karası) reift und beweist, wie gut türkische und internationale Sorten harmonieren.

Zentralanatolien stellt mit eiskalten Wintern und heißen Sommern große Anforderungen an die Winzer. Die Rotweinsorte Kalecik Karası ist dort heimisch, die “Schwarze aus Kalecik”. Mit schönen Himbeer-, Brombeerund Kirscharomen sowie erfrischender Säure, die an einen Pinot Noir erinnert, bringt sie elegante Tropfen hervor. Bei Kavaklıdere, dem größten türkischen Erzeuger mit stattlichen 550 Hektar Rebfläche in vielen Regionen, kombiniert man sie auch mit Syrah und nennt diesen finessenreichen, geschmeidigen Wein VinArt (Goldmedaille bei MUNDUS VINI 2010). Auch der sortenreine “Prestige” Kalecik Karası ist mineralisch- elegant und duftet nach Waldbeeren und Weihrauch.
Ähnlich wie in Australien werden die Trauben bei vielen Erzeugern über weite Strecken transportiert und miteinander vermählt; trotzdem sind die türkischen Weine sehr frisch. Die Weingüter verfügen über modernste Keller. Der Verzicht auf Appellationen hat einen Vorteil: Winzer können genau die Sorten pflanzen, die auf ihr jeweiliges Terroir passen. Der Franzose Jean-Luc Collin nutzt diese Freiheit seit 1991 als Berater und dürfte eine der Persönlichkeiten sein, die den türkischen Weinbau in den vergangenen Jahren entscheidend vorangebracht haben. “Ich wollte damals nur zwei Jahre bleiben”, erzählt der Oenologe. “Heute habe ich einen türkischen Mitarbeiter, der in Bordeaux studiert hat.” In der Türkei gibt es keine Ausbildungsstätte für angehende Winzer. “Ich versuche gerade, in Istanbul eine Schule für Köche und Sommeliers aufzubauen”, verrät er. “Die Türkei ist sehr dynamisch, vor allem in den großen Städten wie Istanbul. Wir brauchen hier Köche und auch Servicepersonal oder Sommeliers, die Ahnung von Wein haben.”
Eine Weinschule unterhält das anatolische Weingut Kayra in Istanbul: die Kayra Academy. Hier können auch Touristen Seminare buchen und auf der Terrasse die Aussicht über das Goldene Horn bewundern. Hinter dem Weingut steht der Getränkeriese Mey, entsprechend gediegen ist die Atmosphäre. Der schwarzlockige Leiter Cüneyt Uygur stellt eine Reihe von Fassproben auf den Tisch (aus Anatolien!), dazu rote und weiße aus türkischen und internationalen Sorten. Mir gefällt besonders die 2006 Buzbag˘ Reserv, eine saftig-seidige, bestens strukturierte Cuvée aus den Sorten Öküzgözü und Bog˘askere. 24 Monate Barrique-Ausbau und die Reifung haben die Tanninstärke der Bog˘askere gebändigt, denn deren Name bedeutet so viel wie Rachenkratzer. Ochsenauge und Rachenputzer, zwei witzige Rebsorten im eleganten Zusammenspiel. Da sage einer, die Türken hätten keinen Humor. Solo ausgebaut muss die Tanninbombe Bog˘askere jeden Tannat-Fan begeistern.
Wir absolvieren ein Besuchsprogramm: Die prachtvolle Hagia Sophia aus dem 6. Jahrhundert mit ihrer 56 Meter hohen Kuppel, erbaut unter Kaiser Justinian, der angeblich im Traum die Form gesehen hatte, später Moschee und seit Atatürk ein Museum. Gegenüber, nicht minder prächtig, die 1616 fertig gestellte Sultan-Ahmed-Moschee, auch Blaue Moschee genannt. 2006 betrat mit Papst Benedikt XVI. erstmals ein Oberhaupt der katholischen Kirche eine Moschee.
Wir bleiben draußen und betreten das Restaurant Agatha im legendären, kürzlich renovierten Hotel Pera Palas. Dort logierten Atatürk, Greta Garbo, Alfred Hitchcock und Agatha Christie, die dort den “Mord im Orient- Express” verfasste. Das Haus atmet noch heute den Glanz der Epoche; der erste Aufzug Istanbuls wurde in diesem 1892 eröffneten Luxushotel eingerichtet und ist noch heute zu sehen. In der Küche waltet der aus Deutschland stammende Koch Maximilian J.W. Thomae, den es vor Jahren nach Istanbul verschlagen hat. Der Reichtum der türkischen Küche mit ihren osmanischen Einflüssen, die weit in den Kaukasus reichen, begeistert ihn. “Allein Anatolien ist riesig, ein unglaublicher Fundus von Rezepten und Gewürzen wie Sumach (Essigbaumrinde), die bis heute kaum aufgelegt worden sind. Was Sie bei mir sehen, ist einfach die neue, moderne Auslegung. Diese salonfähig zu machen, mit Wein zu kombinieren und als Wine-and-Dine-Kultur auch in Europa bekannt zu machen, wo die meisten Leute nur Dönerläden kennen und damit die türkische Küche assoziieren, das ist unheimlich aufregend.” Noch so eine Herkulesaufgabe, aber ein leckere. Dass gerade die türkischen Rebsorten wunderbare Partner zu den appetitlichen Meze (Vorspeisen) und Gerichten wie Kuzu Varyasyonu (Lamm-Variation) sind, weiß auch Maximilians kongenialer französischer Sommelier-Partner, Monsieur Alain Würsching, obwohl auch Cabernet, Merlot, Shiraz oder Petit Verdot made in Turkey keine Genießer-Wünsche offen lassen. Wie sagt Maximilian J.W. Thomae: “Hier ist das Land aus Tausendundeiner Nacht. Und da Europa ökonomisch zusammenwächst, wird sich ein großer kulinarischer Einfluss der Türkei als Trend entwickeln.” Für mich kein Zweifel: Der s¸arap wird dazugehören. Güle güle Istanbul: Mein Integrationskurs hat begonnen.   Rolf Klein 

 

Das 9O5-Duo Daniel Oskouei und Florian Kopp eröffnet eine Weinbar mit Kebab und Mezze in München.