Foto: Ralf Ziegler/AdLumina
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Stefan Nink und Kaiserin Sissis Kuchen

Wir saßen im Nutris und sprachen über Kuchen. Über alten Kuchen, steinalten. Nicht, dass es den dort gegeben hätte, das Nutris ist Südtirols erstes vegetarisch-veganes Gourmetrestaurant und hat eine Weinkarte zum ehrfürchtigen Niederknien, aber wir kommen vom Thema ab, wir waren bei altem Kuchen. „Und wie genau man sehen konnte, wo die Maus gefressen hatte“, sagte Miriam gerade. Man muss ihr das nachsehen.

Miriam hasst Mäuse, sie hasst sie so sehr, dass der Anblick des angeknabberten Kuchens für sie ebenso schlimm gewesen sein muss wie für andere Menschen … Nee, lassen wir das. Und überhaupt wundere sie das nicht, meinte Miriam, die Frau habe ja einen ganzen Packen Probleme mit sich herumgeschleppt, das sei ja wohl klar, und die Magersucht sei da bestimmt nicht das Schlimmste gewesen.

Der Kellner, der in diesem Moment an den Tisch trat, bekam offenbar die Wortfetzen „Probleme“ und „Magersucht“ mit. Weil Miriam die ganze Zeit redete und noch nichts angerührt hatte, schaute er ganz betroffen. Dann zog er sich diskret zurück. Ach so: Es ging um einen Schokoladenkuchen, von dem Sissi einst probiert hat. Also: DIE Sissi. Bei einem ihrer Abstecher nach Südtirol. Der Kuchen ist ein hässlicher Brocken, von dem ein herausgeschnittenes Stück fehlt. Wenn er im Touriseum auf Schloss Trauttmansdorf nicht in einer Vitrine liegen würde: Das Reinigungspersonal hätte ihn mit Sicherheit längst entsorgt.

Gebacken hat den Kuchen anno 1897 die Sonnenwirtin von Nals – nachdem sie erfahren hatte, dass Sissi alsbald bei ihr einzukehren gedenke. Die Kaiserin! Also backte die gute Frau geschwind einen Schokoladenkuchen. Die Sissi aber verzehrte bloß ein winziges Stück, das arme Geschöpf. Den Rest des Kuchens rührte niemand an, an diesem Tag nicht und auch nicht später. Und nachdem er von Generation zu Generation weiter vererbt worden war wie eine Reliquie, steht er also schlussendlich im Museum. Mehr oder weniger versteinert wahrscheinlich und komplett – bis auf das Stück, das die Kaiserin verspeiste.

Und eine winzige Ecke. Die hat die Maus gefressen. Anderen Leuten wäre das wahrscheinlich überhaupt gar nicht aufgefallen. Miriam schon. Sie ging in die Hocke, um den prähistorischen Klumpen aus der Nähe zu inspizieren. Dort zog sie die Luft zwischen den Zähnen nach innen und klang dabei wie ein Virologe in einem dieser Gruselfilme, der soeben den Beweis für die Rückkehr des altägyptischen Körperfresservirus entdeckt hatte. Anschließend wollte sie die Museumsräume sofort verlassen.

Und dann saßen wir also im Nutris, und alles drehte sich um dieses Drecksvieh, das wahrscheinlich mindestens ebenso lange tot war wie Sissis Kuchen steinhart. Wie es wohl in die Speisekammer gekommen sei. Ob Mäuse Schokolade mögen. Und ob man das Tier in flagranti erwischt hatte. Beim Abendessen in einem Spitzenrestaurant gibt es interessantere Gespräche. War aber ja auch keines. War ein Monolog. Der Kellner kehrte zurück. Mit zwei Desserttellern und zwei großen Kuchenstücken. Chocolat Noir mit Holunder und Erdbeere, erklärte er. Miriam schaute ihn lange an. Und dann schaute sie mindestens ebenso lange auf den Teller vor sich. Und ihr Gegenüber dankte still der magersüchtigen Sissi und der unbekannten Maus und beschloss dann, am nächsten Morgen eine Runde durch die Gärten hinter dem Hotel zu joggen. Wegen der doppelten Nachtischkalorien.

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Ausgabe 03/2024

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