Foto: Ralf Ziegler/AdLumina
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Stefan Nink über Touristen in der New Yorker Met

Die beiden kommen auf die letzte Minute, als das Licht schon gedimmt wird: Zwei zierliche Japanerinnen, bepackt mit der Ausbeute eines langen New Yorker Shoppingtages, zu dessen Programm offensichtlich auch der Besuch des hiesigen Weinhandels gehörte, jedenfalls klacken und klonkern da auch etliche Flaschen in ihren Taschen. Die Einkäufe haben sie ziemlich außer Puste gebracht, sie atmen schwer, sie stöhnen, sie keuchen, aber vielleicht liegt das auch an ihren Atemmasken. Wären die beiden Kenianer oder Dänen, müsste man darüber nachdenken, ob draußen etwas passiert ist, ein Virusausbruch oder ähnlich Schlimmes. Bei japanischen Touristen besteht kein Grund zur Sorge: Die tragen sowas auf Reisen gerne. 

Aber jetzt geht erst einmal der Vorhang auf! Das Orchester schwingt sich in den ersten Akt von Puccinis La Bohème, die Geigen schmachten, die Tenöre schmettern, die Japanerinnen aber interessiert das alles wenig – sie müssen irgendwas an ihren Handys kontrollieren. Dann ihre Brillen aus einer der 17 Tüten hervor kramen. Dann die Operngläser. Und auch noch zwei Strickschals, falls es kalt werden sollte in der ausverkauften Metropolitan Opera. Auf der Bühne singt Mimi, als wolle sie die Sterne vom Himmel holen. Auf den Sitzen 57 und 58 in Reihe 24 entdecken zwei Besucherinnen die kleinen LED-Schirme mit dem Libretto. 

Die Met hat ein eher konservatives Publikum, dem man nicht unbedingt eine Affinität für komplexe Computertechnik nachsagen kann. Auch deshalb sind die kleinen Bildschirme sehr simpel gehalten. Es gibt einen einzigen Knopf, mit dem sich der englische Operntext aufrufen lässt. Drückt man ein zweites Mal, erscheint das deutsche Libretto, beim dritten Mal das spanische, das vierte Drücken schaltet den Bildschirm wieder aus. Nun könnte man annehmen, dass sich die Logik eines solchen Systems jedem Besucher ziemlich rasch erschließt, aber da hat man die Rechnung ohne japanische Opernfans gemacht. Die beiden drücken sich aufgeregt durch das Menü, dreimal, neunmal, siebenundzwanzigmal, und als immer noch kein japanischer Text erscheint, wird aus dem Tuscheln eine zunehmend erstaunter klingende Folge von Zisch- und Oooh!-Lauten, denen die Atemschutzmasken kaum gewachsen sind. Schließlich holt eine der beiden jetzt einen Reiseführer aus den Tiefen ihrer Handtasche – offensichtlich wird in dem eine Erklärung für das Mysterium vermutet. Und ihre Freundin hat eine Taschenlampe in der Hand, und ein aufgeregter Lichtstrahl hüpft durchs Dunkel der Met.

Es braucht lange, bis der New Yorker aus der Fassung gerät – verstopfte Straßen, Schneefälle wie in der Antarktis und die ständige Konfrontation mit orientierungslosen Taxifahrern haben ihm mit der Zeit eine grundsolide, beinahe buddhistische Gelassenheit beschert. In Reihe 23 ist es mit der jetzt allerdings vorbei: Ein grauhaariger Herr mit dem Äußeren eines britischen Lords erhebt sich von seinem Sitz, dreht sich um, verbeugt sich tief vor den beiden Japanerinnen und sagt – während vorne auf der Bühne gesungen wird – einen langen, lauten Satz. Einen japanischen Satz. Ein Satz, der klingt, als würde er alles im Radius von vier Metern vereisen. Dann setzt sich der grauhaarige Herr wieder. Einige Minuten später ist der erste Akt vorbei. Der Applaus klingt ein wenig so, als gelte er nicht ausschließlich der Netrebko. Die beiden Besucherinnen auf den Sitzen 57 und 58 in Reihe 24 bekommen ihn allerdings nicht mit. Sie sind eingeschlafen. 

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