Stefan Nink schwelgt in Reiseerinnerungen

MAN KOMMT IN DIESEN MERKWÜRDIGEN ZEITEN JA MEHR ZUM LESEN, weil man weniger zum Reisen kommt, aber manchmal ist sich beides auf wundersame Weise sehr ähnlich. In glücklichen Momenten passiert es einem bei der Lektüre und einem Glas Wein sogar, dass man sich plötzlich in der Zeit zurückversetzt fühlt; für einige Augenblicke ist es dann so, als sei man tatsächlich gerade unterwegs. Neulich zum Beispiel lag ich wieder in meinem Schlafsack, während einer Expedition, hoch oben im Himalaja. Es war früh am Morgen und bitterkalt, und draußen schimpfte und zeterte eine alte Frau, weil sie den Reißverschluss meines Zeltes nicht aufbekam. Das Ganze ist Jahre her. Beim Lesen war es, als sei es erst gestern passiert.

Foto: Ralf Ziegler/AdLuminaSylvain Tessons „Der Schneeleopard“ ist ein wunderbares Buch. Der französische Abenteurer beschreibt darin seine Suche nach dem prächtigsten Tier des Himalajas: Einen Schneeleoparden irgendwo in einem Tal auf vier- oder fünftausend Meter Höhe zu sehen, ist statistisch ähnlich unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto – es gibt nur noch sehr, sehr wenige von ihnen. Umso entsetzter war ich, als die alte Frau mir an jenem Morgen eine verschrumpelte Pfote auf den Schlafsack warf, die an einem Lederriemen befestigt war. Kurz zuvor hatte sie den Kampf mit dem Reißverschluss gewonnen, jetzt hing sie halb im Zelt und halb draußen, ein verhutzeltes, steinaltes Großmütterchen, das jammerte und klagte und dabei mit einer rostigen Zange herumfuchtele. Ich bin auf Reisen öfter unter skurrilen Umständen aufgewacht. So wie an diesem Morgen war es selten. Der Sherpa zog die zeternde Alte an den Füßen aus meinem Zelt. Es stellte sich heraus, dass sie Zahnschmerzen hatte. Und dass es sich bei den letzten Europäern, die vor uns durch das abgeschiedene Tal gewandert waren, um eine Gruppe Zahnärzte aus Mailand gehandelt hatte. Offenbar hatten die Italiener unterwegs praktiziert, und jetzt wurde offenbar bei allen nachfolgenden Trekkern mit ähnlichem Aussehen eine ähnliche zahnmedizinische Sachkenntnis vermutet. Deswegen die Zange – für den Eingriff. Deswegen das Amulett mit der halb mumifizierten Pfote – als Bezahlung.

Das Fell war noch immer weich, mit etwas Fantasie konnte man ahnen, wie prächtig das Tier gewesen sein musste. Ich ließ den Sherpa fragen, woher die alte Pfote stammte. Die Frau antwortete und lachte keckernd, zwei Zähne hatte sie noch im Mund. Sie sagt, sie habe das Tier selbst getötet, übersetzte der Sherpa, weiter oben im Tal, beim Ziegen hüten. Die Frau unterbrach ihn. Mehrere, übersetzte der Sherpa, sie sagt, dass sie mehrere erwischt habe. Wahrscheinlich sah man mir an, wie geschockt ich war. Die alte Frau nutzte das aus. Mit einer ansatzlosen Bewegung riss sie mir das Amulett aus der Hand, drehte sich um und wackelte erstaunlich flott davon, die Pfote in der einen, die rostige Zange in der anderen Hand. Und als ich jetzt mit Tessons Buch im Sessel saß, habe ich wie an jenem Morgen lange nachgedacht. Darüber, ob ich damals tatsächlich die Pfote eines Schneeleoparden in der Hand hatte. Oder doch eher die eines großen Hasen.

Stefan Nink ist Reisejournalist. Man kennt ihn aus Funk, Fernsehen und verschiedenen Magazinen. Für uns schreibt er regelmäßig Kolumnen. "Reise in die Erinnerung" ist in Ausgabe 5/21 von MEININGERS WEINWELT erschienen.

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Ausgabe 03/2024

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