DIE VERSPIEGELTEN GLÄSER SEINER PILOTENBRILLE reflektieren das Licht der Jeep-Scheinwerfer, und als er zur Begrüßung die Hand hebt, da ahnt, ach was – da weiß man: Jetzt wird alles gut. Alles. Ganz bestimmt. Der Mann dort ist eine Legende. Einer, von dem sie im Hotel vorhin noch geschwärmt haben: Mit Jadvendra Singh fahren Sie, Sir? Mit DEM Jadvendra Singh? Niemand kennt den Nationalpark besser, Sir! Oh, heute ist Ihr Glückstag! Und dann sitzen wir in unserem Jeep, und dann geht es los, Richtung Glückstag.
Für den wird es allmählich Zeit. Ich bin jetzt seit drei Tagen auf Tigersafari im indischen Ranthambore Nationalpark, und bislang habe ich noch keinen Tiger gesehen. Keinen einzigen. Natürlich kann das passieren, selbst im weltweit besten Beobachtungsrevier für die großen Katzen. Blöd ist nur, dass alle anderen Tigern begegnet sind. Alle. Abends an der Bar holen Inder, Russen, Italiener und chinesische Tierfreunde ihre Kameras hervor und zeigen ihre Beute. Schlafende Tiger. Gähnende Tiger. Fressende Tiger. Bloß ich hab’ nur Singvögel fotografiert.
Der Ranger auf der ersten Tour hieß Raj und hielt den Zeigefinger auf die Lippen. Tiger entdecke man nämlich mit den Ohren, flüsterte er. Man müsse auf die Geräusche achten, die ein nahender Tiger auslöst. Aufgeregt tschilpende Vögel. Oder kreischende Affen. Wie jetzt gerade. Der Affe schien allerdings sehr weit weg zu sein, so etwa am anderen Ende des Parks. Der Tiger damit wahrscheinlich auch. Wir blieben trotzdem still sitzen. Eine Stunde lang. Zwei. Dann beschloss Raj: „No tiger“. Wir fuhren weiter. Und später zurück. Ohne Tiger.
Beim nächsten Ausflug war der Ranger nicht zu verstehen. „Ich kann leider kein Hindi“, entschuldigte ich mich. „Aber ich habe doch Englisch gesprochen“, antwortete er empört. Anschließend sagte er stundenlang nichts mehr bis auf „maybe tiger“ und – irgendwann darauf – „no tiger!“ Später kamen uns andere Jeeps entgegen, deren Passagiere selig waren: Drei Tiger! Mutter mit Jungen! Und wie süß die gespielt haben! Ich durfte ihre Videos mit der Spielgruppe anschauen. Unter anderem von einem fünfjährigen Jungen, der mit seinem Material wahrscheinlich demnächst zu großen Filmfestspielen anreisen wird. Als die Ranger fertig getratscht hatten, fuhren wir zum Wasserloch mit den drei Tigern. Die natürlich längst weg waren.
Und jetzt also: Jadvendra Singh. Der mit der Pilotenbrille. Die Legende. „Heute sehen wir Tiger!“ Weil wir nämlich in das Revier von #24 fahren würden. Nummer 24, sagt er, sei der größte, der stolzeste, der mächtigste Tiger im Park. Wir stehen seit Stunden an einem kleinen See, und Jadvendra erzählt von #24. Je länger er erzählt, desto lauter wird er, ich bin mir sicher, dass man uns bis zum Kassenhäuschen hören kann. Oh, das störe #24 nicht, sagt Jadvendra und nimmt das knackende Funkgerät in die Hand. Ah, sagt er, ok, verstanden. Dann dreht er sich um und erklärt, dass #24 auf der anderen Seite des Parks gesichtet worden sei. Ganz ungewöhnlich sei das, normalerweise halte er sich dort nie auf. Er sieht auf die Uhr. Wir fahren zurück ins Hotel. Und ich weiter zum Flughafen.
Dass ich dann doch noch einen Tiger gesehen habe, verdanke ich Etihad Airways. Bei denen gab es zum schweren Rotwein auf dem Rückflug nämlich „Life of Pi“. Das ist dieser Film über den schiffbrüchigen Jungen, der sich das Rettungsboot mit einem teilt. Sind schon wunderschöne Tiere, die Tiger.
Stefan Nink ist Reisejournalist. Man kennt ihn aus Funk, Fernsehen und verschiedenen Magazinen. Für uns schreibt er regelmäßig Kolumnen. "Safari ohne Tiger" ist in »Ausgabe 3/22 von MEININGERS WEINWELT erschienen.