Stefan Nink lernt irische Geschichte kennen

ACH, IRLAND! So groß, so alt, so voller Geschichte und Geschichten! Neulich waren wir in einem eher abgelegenen Teil der Grünen Insel unterwegs, im County Westmeath, das selbst in dicken Reiseführern schmählich unterschlagen wird. Also haben wir uns nach jemandem erkundigt, der uns ein bisschen was zeigen könnte. Und da war uns Seamus empfohlen worden: ein ausgewiesener Kenner sei das. Mittelalterexperte, hatte es geheißen, aber auch in allen anderen Epochen bewandert. Ire durch und durch.

Und ein begnadeter Erzähler mit einem Faible für skurrile Anekdoten. Jetzt wartete er vor den Ruinen auf uns; schon von Weitem sahen wir seinen selbstgeschnitzten Wanderstab, das abgemachte Erkennungszeichen. In der anderen Hand hielt er einen dieser alten Schlüsselringe, mit deren Hilfe man früher die Türen von Burgen und Klöstern aufgeschlossen hat. Seamus hatte ihn dabei, weil er uns ein paar Türen von Burgen und Klöstern aufschließen wollte. Seamus ist Tourguide. Eigentlich ist Seamus aber eher Seamus, wie wir bald feststellen sollten.

Foto: AdLumina/Ralf Ziegler
Foto: AdLumina/Ralf Ziegler

Zuerst aber mussten wir einen steilen Hang hinauf zur prächtigen Fore Abbey. Die interessierte Seamus offensichtlich aber überhaupt nicht, jedenfalls hechelten wir an ihr vorbei zu einer verfallenen Eremitage weiter oben im Hang. Wir betraten einen muffigen Raum, den seit 1655 niemand mehr gelüftet zu haben schien.

Seamus legte los. Und erzählte. Von den Eremiten, die einst hier wohnten. Von den Maiden aus dem nahen Dorf, die zu Besuch kamen, damit die Eremiten nicht ganz so einsam waren. Von den Kindern, die gerne mit den Knochen der bestatteten Edelleute aus der Gruft spielten. Von den Motorradgangs, die später mit uralten Schädeln kegelten, doch doch, das sei so gewesen, lagen ja überall herum, die Dinger. Seamus erzählte, als wolle er Netflix mehrere Serien gleichzeitig anbieten. Nach einer halben Stunde hatte er uns halb Irland erklärt.

Und anschließend ein altes Castle, aber da war uns schon leicht blümerant von all den skurrilen Anekdoten. Zur Hintertür des Castles hatte Seamus den passenden Schlüssel am Bund: Verschlissene Teppiche, Möbel aus drei Jahrhunderten und Kaminzimmer wie Ballsäle, an die Heizkosten will man gar nicht denken. Seamus klopfte mit dem Wanderstab auf einen alten Läufer, als er uns auf Edward Packenham aufmerksam machte, das Gemälde ganz links, der Typ mit der auffälligen Nase. Packenham fiel 1812 in der Schlacht von New Orleans. Beerdigt werden sollte er natürlich in Irland, also steckte man ihn aus Konservierungsgründen in ein Fass voller Rum. Das dann leider nicht aufs Schiff verladen, sondern geklaut wurde – und in einer Spelunke in Louisiana landete. Als sich die Gäste dort über die merkwürdige Geschmacksnote des Rums beschwerten, öffnete der Wirt das Fass. „Da steckte er, der Packenham“, sagte Seamus. „Any questions?“

Als wir später wieder zurück an unserem Mietwagen waren, entschieden wir, das alles abends bei einem Glas Wein aufzuschreiben. Natürlich nur für den Fall der Fälle. Falls mal jemand von Netflix anruft. Und nach skurrilen Anekdoten fragt.

 

Stefan Nink ist Reisejournalist. Man kennt ihn aus Funk, Fernsehen und verschiedenen Magazinen. Für uns schreibt er regelmäßig Kolumnen. "Skurriles Irland" ist in »Ausgabe 5/22 von MEININGERS WEINWELT erschienen.

Ausgabe 03/2024

Erhältlich ab 8. März: MEININGERS WEINWELT Ausgabe 03/2024

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