Peter H. Müller spricht mit  spitzer Feder Themen  aus der Gastro-  und Wein-Szene an,  die ihm persönlich am Herzen liegen.
Peter H. Müller spricht mit spitzer Feder Themen aus der Gastro- und Wein-Szene an, die ihm persönlich am Herzen liegen.

„Kriskram“

Peter H. Müller spricht über den Umgang der Mitmenschen mit der aktuellen Situation.

Uns geht‘s schon ziemlich gut ...
Unterm Strich, ohne Wenn und Aber, sind wir gar regelrecht verwöhnt. Über jeden Menschen, der in diesem Moment in meiningers sommelier schmökert, traue ich mich diese Behauptung aufzustellen. Wir haben ein Dach über dem Kopf und Wein im Keller. Wir haben Klamotten im Schrank und mindestens einen fahrbaren Untersatz und/oder ansonsten mehrere Möglichkeiten, recht komfortabel von einem Ort zum nächsten zu reisen. (Wer jetzt bereits aufgrund von halbstündigen Bahnverspätungen bereits den Drang des Widerspruches empfindet, darf sich besonders angesprochen fühlen. Nach dem Motto: Wehe die Internetverbindung auf dem Flug von Berlin nach London bricht einmal ab, 1 Stern). Wir haben ein extra Kästchen im Wohnzimmerschrank für befriedigende Süßwaren oder Knabberzeug. Wir haben uns unsere Nester gebaut und geben klaglos 60 Euro auf der Bowling Bahn für zwölf Limonaden während des Kindergeburtstages aus. Uns geht es gut. Da spricht auch nichts dagegen.

Ich, für meinen Teil, bin sehr dankbar, dermaßen privilegiert durch‘s Leben gehen zu können – andererseits benötige ich eben deswegen ein stetes inneres Nadelkissen, welches mich daran erinnert, mir dessen bewusst zu sein, wie frei ich bin und wie gut das Leben zu mir ist. Von daher stellt es mir umso mehr die Nackenhaare auf, wenn Menschen ihre Wertschätzung aufgebraucht zu haben scheinen – sofern sie denn einmal da war. Ich lasse mich nicht kirre machen. Ich lasse mir nicht einreden, dass ich ab diesem Jahr überhaupt kein Geld mehr haben werde und alles den Bach runter geht. Seit ich auf diesem Planeten weile – mittlerweile 42 Jahre – gab es kein Jahr, in dem nicht alles teurer wurde. Mal geschah dies fließend, mal ad hoc. Generell jedoch – gefühlt zumindest – wurde stets alles teurer. Ja, sogar schon lange vor dem Wechsel zum Euro. (Außerdem ist es gänzlich irrelevant wie viel Deutsche Mark oder Schilling die 100 Gramm Gouda umgerechnet heute kosten würden.)

Ich gehöre zur behüteten Mittelschicht Deutschlands und habe seit dem Abschluss meiner regulären Schulzeit finanziell für mich selbst gesorgt. Der Folgende ist der Kernsatz dieser Kolumne: Ich persönlich habe noch nie eine Krise erlebt. Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, wurde mein Leben durch rein gar nichts tangiert von dem, was uns als bedrohlich in den Medien in fetten Lettern aufgezeigt wurde.

Also: Heult mich nicht voll!!! Sofern Ihr euer täglich Zalando Päckchen auf der Türschwelle liegen habt und gedankenlos hin und her schickt wegen falscher Größe, Missfallens oder bloßer Langeweile. Sofern Ihr in Wien studiert, Eure Mutter, die bereits die Miete der Altbauwohnung zahlt, Euch bittet, den Thermostat auf 18°C zurückzudrehen – und Ihr dies mit der Formulierung, dies sei „un-leb-bar“ abtut (Denk mal über dieses Wort nach! Und dann zieh‘ Dir gefälligst ‘n Paar fucking Socken und ‘n Pulli an, Du undankbares Gör!); Sofern Ihr Euch im Januar eine dreiwöchige Algen-Getränke-Kur nach Hause liefern lasst zur Entgiftung – ansonsten allerdings für das, was Ihr über Euren Körper stülpt, ein Vielfaches dessen ausgebt, als für das, was Ihr in Ihn hineingebt. Sofern Ihr, wenn Ihr ehrlich zu Euch selbst seid, feststellt, dass es Euch sehr gut geht, hört auf zu heulen! Es ist sehr unattraktiv.

01-2023

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Saumagen - Lage mit vielen Gesichtern

PAIRING

Restaurant Intense - Spiel mit dem Feuer

PROFILE

Almhof Schneider - Josef Neulinger mit klarer Handschrift