Bereits in der Antike hatten die Menschen eine Vorliebe für Kräuter und Bitter (Foto: Madeleine Steinbach/stock.adobe.com)
Bereits in der Antike hatten die Menschen eine Vorliebe für Kräuter und Bitter (Foto: Madeleine Steinbach/stock.adobe.com)

Die Geschichte unserer Bitter-Liebe

Bei kaum einer Spirituosenkategorie kann man, wenn man über ihre Historie sprechen will, so weit ausholen wie beim Kräuterbitter bzw. Kräuterlikör. Wir gehen hier entsprechend ganz weit zurück, in vorgeschichtliche, sogar vormenschliche Zeiten.

Text: Helmut Barro

Ein relativ neues Forschungsgebiet ist die Zoopharmakognosie, in der untersucht wird, wie Tiere wie Gorillas, Bären und viele andere ganz gezielt bestimmte Pflanzen essen, um sich selbst von Krankheiten zu heilen. Im Grunde ist es also gar keine Kulturleistung des Menschen, sich für die heilsame Wirkung von Pflanzen zu interessieren, sondern genetisch in uns angelegt.

Bereits in der Antike beschäftigt man sich dann gezielt und ausgiebig damit, Tinkturen und Essenzen herzustellen, die den von vielerlei Zipperlein gequälten Hilfesuchenden dabei helfen sollten, sich selbst zu kurieren. Historisch belegt ist, dass die Griechen wie auch die Chinesen der Han-Dynastie ausgeklügelte Rezepte aus verschiedenen Heilpflanzen entwickelten, die in der westlichen Welt unter dem Namen "Theriak" verbreitet waren, und in China als Basis der dortigen traditionellen Medizin bis heute Relevanz haben – damals waren solche Kräuterarzneimittel oft die einzige Form der Medizin, die erhältlich war.

(Advertorial) Dieser kurze, aber prägnante Ausspruch von Joseph II, Kaiser von Österreich und König der Ungarn, um das Jahr 1790 markiert den Beginn einer außergewöhnlichen Spirituosen- und Marken-Karriere. Unicum ist ein nach einem uralten Geheimrezept hergestellter bitterer Kräuterlikör aus Budapest. Eine einzigartige Spezialität, die auch in Deutschland immer mehr Freunde findet.

Im Mittelalter tun sich vor allem die Klöster als Heimat für Wissen hervor, darunter natürlich die entstehenden Wissenschaften der Botanik und Anatomie. Strabo im 9. Jahrhundert und Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert schrieben über die Wirksamkeit von Heilpflanzen und ihre generell wohltuende Wirkung auf Körper und Seele. Natürlich waren diese Mittel noch alle alkoholfrei, erst nach der Verbreitung der Destillationstechnik in Europa im 13. Jahrhundert wurde Alkohol als sehr gut funktionierendes Lösungsmittel für die meist gebundenen und schwierig zu extrahierenden Wirkstoffe der Pflanzen entdeckt. Zunächst war hier dann der Alkohol mehr ein Hilfsmittel, um die Reinheit der Pflanzenwirkstoffe zu sichern und zu konzentrieren. Man kann davon ausgehen, dass diese in Mazerationstechnik entstandenen Elixiere nicht als Genussmittel dienen konnten, sondern eher die dadurch sprichwörtlich gewordene „bittere Medizin“ waren, die man halt widerwillig schluckte, wenn man musste.

Ein großer Einschnitt diesbezüglich erfolgt dann zur Zeit des Kolonialismus – die Zuckerpreise sinken durch das stark vergrößerte Angebot in den Kolonien Großbritanniens, Frankreichs und Spaniens, und die sonst dem Hochadel vorbehaltenen, stark gesüßten Kräuterliköre finden auch Einzug in die Häuser der Händler und reichen Nichtadligen; aus der bitteren Medizin wird ein Genussmittel. Mit Napoleons Eroberungskriegen und der dadurch wirtschaftlich komplizierten Situation wurde in Europa die Zuckerrübe als Ersatz für koloniales Zuckerrohr beliebt, der Preis für Zucker sinkt weiter, und so kommen am Ende alle Gesellschaftsschichten in den Vorteil, sich Kräuterliköre auch als Genussmittel leisten zu können.

Wir stellen drei Cocktails vor, die jeweils in ihrer eigenen Art mit den Eigenheiten eines Kräuterbitters umgehen – von gerührt über geschüttelt zu geblendet, von klassisch über extrem bis zu verspielt.

Wir sind nun im 19. Jahrhundert angekommen, und ab hier beginnen sich dann auch die heute bekannten Unterkategorien im Vergleich zum bisherigen, langsamen Geschehen dann sehr plötzlich und fast explosiv herauszubilden. Die meisten Produzenten berufen sich weiterhin auf die Tradition der medizinalen Historie, insbesondere der Magenbitter, der das mit seiner Mischung aus verdauungsfördernden Kräutern und dem Alkoholgehalt bis heute tut; nur im Hintergrund geben sie zu, dass sie auch zum Vergnügen konsumiert werden können – Schwedenbitter, Kronessenz und Angostura entstammen dieser Zeit, und auch die heute noch sehr beliebten französischen Klosterliköre Chartreuse und Bénédictine D.O.M. begannen ihre Erfolgsgeschichte.

In Norditalien bildete sich in wenigen Jahren eine höchstlebendige Bitterkultur heraus und förderte die Entwicklung einer weiten Spannbreite an Amaro-Stilen, die auf Artischocke, Trüffel, Rhabarber, Chinarinde und Ähnlichem als jeweiliger Hauptkomponente basieren. Die geschichtlich neueste Entwicklung hierbei ist wahrscheinlich die extreme Liebe zu dieser Form des Bitterlikörs, die in den Vereinigten Staaten in den 2010er Jahren zu einem „amaro craze“ geführt hat, mit entsprechender Ausdehnung des Produktspektrums und neuen Kundengruppen.

Berufsbeschreibung: „Bittersommelier“. Nils Boese hat 30 Jahre Barerfahrung, betrieb lange Zeit seine Manhattan-Bar in Hildesheim. Wir sprechen mit ihm über Schwierigkeiten und Mythen rund um die Kategorie der Kräuterliköre/-bitter.

Viele der Marken, die Anfang des 19. Jahrhundert gegründet wurden, haben es geschafft, bis heute zu überleben, hin und wieder mit Re-Rezeptierung oder Änderung des Marketings und der Zielgruppe. Insbesondere der Bezug auf gesundheitliche Vorteile darf seit dem EU-Verbot von Health Claims bei Spirituosen nicht mehr in der Werbung eingesetzt werden, was der Beliebtheit der Kräuterliköre und -bitter keinen Abbruch getan hat – der moderne Genießer ahnte schon davor, dass eine Kombination von viel Alkohol und viel Zucker trotz vieler Kräuterzusätze nicht das Allergesündeste sein kann.

Man kann spekulieren, ob es vielleicht der Kategorie insgesamt nicht sogar gutgetan hat, diese Altlast, aus der sie entstanden ist, endlich loszuwerden – der Kräuterlikör ist endgültig in der modernen Konsumwelt angekommen. Sowohl als Aperitif als auch als Digestif flexibel einsetzbar ist er heute an den Bars ganz Europas zu finden und beliebt wie kaum eine zweite Spirituosenkategorie. Und wir müssen nun endlich nicht mehr instinktiv Pflanzen im Dschungel suchen, wenn wir Bauchweh haben.

fizzz 04/2024

Themen der Ausgabe

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Juliane Winkler, die Restaurantleiterin des „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin liebt ihren Beruf. Und setzt sich mit
#proudtokellner dafür ein, dass er mehr Wertschätzung erhält.

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