Nils Boese ist Barbetreiber und einer der erfahrensten Experten im Bereich Kräuter und Bitter (Foto: Jägermeister)
Nils Boese ist Barbetreiber und einer der erfahrensten Experten im Bereich Kräuter und Bitter (Foto: Jägermeister)

„Bitter ist ideal als Aperitif“

Gibt man in einer Suchmaschine der Wahl die Berufsbeschreibung „Bittersommelier“ ein, findet man sein Bild. Nils Boese hat 30 Jahre Barerfahrung und betrieb lange Zeit seine Manhattan-Bar in Hildesheim mit der entsprechenden Unaufgeregtheit. Seit 2008 ist er Markenbotschafter für Jägermeister, und hält Bittertastings ab. Wir sprechen mit ihm über Schwierigkeiten und Mythen rund um die Kategorie der Kräuterliköre/-bitter.

Interview: Helmut Barro

Nils, was siehst Du als Herausforderung, wenn man beginnt, sich mit der Kategorie der Kräuterbitter/-liköre zu beschäftigen?

Nils Boese: „Die größte Problematik bei dieser Kategorie ist die Definition und Abgrenzung. Gewürze, Zimt, Ingwer, Anis, Rinden, Wurzeln, das findet man ja auch beim Gin. Gehört Gin in die Kategorie der Kräuterspirituosen? Eher nicht. Diese Art von klarer Abgrenzung zu anderen Spirituosen fehlt, eine Art von Regelwerk, wie es das zum Beispiel bei Tequila gibt. Da ist das klar, die blaue Weberagave muss da sein, dann gibt es blanco, reposado, añejo, das ist geregelt, und das versteht der Konsument.

Beim Kräuterbitter ist das anders, da gibt es zwar uralte Rezepte, aber keine modernen Regeln außer den banalen, gesetzlichen, was Alkohol- und Zuckergehalt angeht. Wir haben hier viele unterschiedliche Themen, die man gleichzeitig verstehen muss. Es geht um den Unterschied zwischen Destillation und Mazeration, der Alkohol ist bei uns nur das Auszugsmittel, bei den anderen Spirituosen ist es der definierende Gegenstand. Bei uns ist es ein Vehikel, Mittel zum Zweck. Und auch wenn das manchmal so vermarktet wird, geht es nicht immer nur ums Rezept. Sondern es geht, und das ist etwas ganz Spannendes, um die Ausführung des Rezeptes. Hersteller greifen auf die letztlich gleiche Kiste mit Zutaten zu, und am Ende des Tages geht es dann darum, wie.

Was möchte ich betonen, was möchte ich unterdrücken? Was brauche ich für die Komplexität? Das soll aber nicht im Vordergrund sein, es geht eigentlich nie um das Hervorheben einer einzelnen Zutat, sondern immer um das Zusammenspiel von vielen. Bei vielen Kräuterprodukten ist die Komplexität erstmal brutal überdeckt von extremer Süße und extremer Bittere, wirklich alles, was darunter liegt, ist eigentlich eher schwer erreichbar. Das ist ähnlich wie so ein phenolischer Islay Whisky, bei dem auch immer ganz viel darunter liegt, aber es ist halt schwer schmeckbar. Und das ist erklärungsbedürftig für den Trinker.“

„Die Problematik hier ist, dass, wenn man immer nur ein einzelnes Wort nimmt, um etwas zu beschreiben, immer etwas fehlt, und das führt zu einer reflexartigen Ablehnung.“

Erklärungsbedürftig, ja. Ein großes Thema heutzutage ist Transparenz, etwas, bei dem die Kräuterbitter/-liköre hinterherhinken – man beruft sich bei den Herstellern gern auf geheime, alte Rezepte. 

„Also, die Leute wollen Transparenz und verstehen, was sie trinken, vielleicht auch ein Regelwerk; auf der anderen Seite suchen sie aber auch nach dem Mystischen, dem Geheimnis hinter der Tradition. Viele Hersteller arbeiten auch nicht so perfektionistisch, dass jede Flasche gleich schmeckt – Handwerk halt. Und die Natur gibt Dir auch immer irgendetwas anderes, das ist nicht jedes Mal gleich. Das gehört mit dazu, dass es eine Unschärfe, ein Geheimnis gibt, etwas, das durch die natürlichen Zutaten entsteht. Man kann im Labor viel messen und definieren, die Beladung für die Mazeration für die einzelnen Kräuter festlegen, aber Auge und Zunge sind immer noch die Mittel der Wahl, so dass man sagen kann, heute nehmen wir ein bisschen mehr, morgen ein bisschen weniger. Bei einem frühen Winter ändern sich das Klima und die Temperatur, das hat Einfluss auf den Aromengehalt, das ist alles nicht hundertprozentig steuer- und kontrollierbar. Auch die Qualität der gelieferten Materialien ist nicht immer kalkulierbar, da lehnt man manchmal 5 Lieferungen ab, aber irgendwann muss man halt was nehmen und dann darauf reagieren. Kurz gesagt - es ist durchaus legitim, wenn man einerseits eine Transparenz möchte; in der Kategorie gibt es aber eben noch diesen Zauber, dieses Nicht-Artikulierbare, dieses geheimnisvolle Extra, das durch die vielen Faktoren beim Produktionsprozess entsteht.“

Bei kaum einer Spirituosenkategorie kann man, wenn man über ihre Historie sprechen will, so weit ausholen wie beim Kräuterbitter bzw. Kräuterlikör. Wir gehen hier entsprechend ganz weit zurück, in vorgeschichtliche, sogar vormenschliche Zeiten.

Spiegelt sich das neben dem Image der Kategorie auch in der tatsächlichen Handhabung der Liköre in einer Bar wider? Ist der Kräuterbitter trotz der Geheimnisse eine verstandene Cocktailzutat?

„Gerade dieses Nicht-Artikulierbare macht den Kräuter zu einer tollen Zutat. Du willst in einem Drink immer etwas Dynamik, das Gefühl, dass da was passiert, der hat dann dieses Extra. Das muss gar nicht erkennbar sein, das ist nicht die Idee dabei, sondern es ist großartig, wenn du anfängst im Mixen damit zu arbeiten, kannst du plötzlich etwas hervorheben, was vorher eigentlich in der Regel unterdrückt oder nur miteingeflochten war. Die Bar ist dann halt so ein schönes Spielfeld. Das verlangt natürlich danach, dass du sehr gute Produktkenntnisse hast, was wiederum oft an Grenzen stößt. Es ist oft unglaublich schwer, einzelne Aromen zu identifizieren, man verlässt sich zu oft auf das, was als Zutat vom Hersteller kommuniziert wird. Dann redet man aber oft über Angelikawurzel oder Rhabarber, hat die getrocknete Zutat aber noch nie wirklich gesehen oder geschmeckt. Die meisten können höchstens 3 von 10 Zutaten erkennen, was aber auch OK ist, denn man begegnet den ganzen Kräutern und Gewürzen oft nicht so häufig wie einer Zitrone, da ist das viel einfacher. Die meisten Bartender greifen darum weniger nach Aromenprofilen, sondern eher ein bisschen nach den bekannten Brands, aber das ist einfach dem oft fehlenden Verständnis für den Charakter der Zutaten geschuldet und entschuldbar. Genau dieses Verständnis ist in der Barwelt eben oft nur rudimentär vorhanden, da ginge viel mehr.“

Nils Boese
Nils Boese

„Es geht nie um das Hervorheben einer einzelnen Zutat, sondern um das Zusammenspiel von vielen.“

Nils Boese
Bittersommelier, Barbetreiber und Markenbotschafter bei Jägermeister

Ted Haigh schrieb, dass es oft schwierig ist, Geschmacksprofile abseits von süß/fruchtig zu vermitteln, insbesondere „bitter“. Ist das für Kräuterbitter/-liköre dann nicht besonders schwierig?

„Die Problematik hier ist, dass, wenn man immer nur ein einzelnes Wort nimmt, um etwas zu beschreiben, immer etwas fehlt, und das führt zu einer reflexartigen Ablehnung. Wenn ich jemanden frage, magst Du eher süß oder eher fruchtig oder sauer? Dann vergessen die Leute, dass in natürlichen Geschmäckern, zum Beispiel in einem Apfel, immer sowohl Süße als auch eine Säure ist. Das ist nicht nur das eine oder das andere, sondern in der Regel sind es immer mehrere Eindrücke. Nur süß wäre zum Beispiel eine Kinderschokolade. Deswegen können wir als Erwachsene die auch nur essen, wenn sie aus dem Kühlschrank kommt. Dann hat sie wenigstens noch diesen Knack. Sonst ist sie nur weich und eigentlich unglaublich süß, das können wir gar nicht ab, das ist dann viel zu viel.

Und bei bitter ist das natürlich auch immer ein Stück weit so. Ist das nicht für den aktuellen Zeitgeist eigentlich perfekt? Es muss immer alles gepostet werden, alles muss oberflächlich, schön und gut ansehbar sein, und dadurch gibt es natürlich automatisch auch eine gewisse Leere und man sucht als Gegenbewegung wieder nach echter Tiefe. Diese Tiefe bieten Kräuterbitter und -liköre auf jeden Fall, alle mit ihrer individuellen, persönlichen Geschichte. Eigentlich ist so ein Kräuterprodukt komplett anachronistisch in seiner Langsamkeit. Der Herstellungsprozess, der ist so unspektakulär wie Farbe beim Trocknen zuzuschauen, man schmeißt was irgendwo rein und dann gehst du weg, je nachdem, wie viel Erfahrung du hast, musst du das nicht mehr anpassen. Erst wenn es anfängt, dann musst du natürlich immer probieren, weil du gar nicht weißt, was genau passiert. Dann musst du manchmal nur vertrauen, das ist natürlich unglaublich, das ist total genial. Das Ganze hat in sich so viel Zauber. Und da denke ich mal, das ist eigentlich das Beste an der Kategorie.“

Wir stellen drei Cocktails vor, die jeweils in ihrer eigenen Art mit den Eigenheiten eines Kräuterbitters umgehen – von gerührt über geschüttelt zu geblendet, von klassisch über extrem bis zu verspielt.

Wenn Kinder diesbezüglich einfacher sind, können wir das umkehren? Wird man im Alter empfänglicher und verstehender, was Bitterstoffe angeht?

„Alter und Erfahrung spielen eine große Rolle. „Bitter“ ist etwas, was man erst in späteren Jahren sozusagen wirklich mag. Wenn man sich die normale Evolution anschaut beim durchschnittlichen Trinker, der fängt mit Weißwein an und dann kommt Rotwein, der steigt nicht bei Rotwein ein, der muss erst sozusagen eine gewisse Desensibilisierung erfahren, überhaupt erst mal manche Eindrücke ertragen lernen. Und erst dann kann er „bitter“. Kaffee wird in der Regel angefangen mit Milch, und irgendwann geht es dann zu schwarz. Ich trinke meinen Espresso ohne Zucker. Also ja, Bitter sind oft beliebt bei geübten Trinkern, und von so ein bisschen älteren, ja. Und da kommt dann dazu, dass das ein bisschen genetisch bedingt ist, wieviel unterschiedliche Bitterrezeptoren du persönlich hast. Das heißt, wieviel Quellen von Bitterstoffen kannst du differenzieren. Normaler Blattsalat erscheint erstmal nicht bitter. So wenn du auf dem ein bisschen länger rum kaust, wird er bitter. Das ist aber ein anderes Bitter als meinetwegen bei Kaffee, oder Rhabarberwurzel, oder Enzian - komplett andere Bittere, und unterschiedliche Menschen reagieren unterschiedlich auf diese Bitterquellen.“

„Es geht heute darum, dieses Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Genuss zu bearbeiten.“

Gibt es, neben dem persönlichen Geschmack, einen grundsätzlich guten Einsatz für Kräuterbitter/-liköre, bei dem er alle seine Stärken ausspielen kann?

„Bitter ist ideal als Aperitif. Dafür gibt es physiologische Gründe, man braucht Bitterstoffe, um die Galle anzuschieben, damit die genug produziert, um die Verdauung zu unterstützen. Säure beispielsweise macht etwas Ähnliches, sie sorgt für viel Speichelfluss, sie verzerrt aber gleichzeitig auch das Geschmacksbild, das sieht man bei einem Orangensaft, nach dem alles sehr anders schmeckt. Ein guter Aperitif verfälscht aber nicht, im Gegenteil, er reinigt die Mundhöhle. Nimm einen Count Mast, gleiche Anteile Gin, Jägermeister, süßer Wermut und eine Zitronenzeste, schön kalt gerührt und was für ein fantastischer Drink entsteht, was macht der mit der Bittere – er regt deine Verdauung an und er präpariert im Endeffekt deinen Gaumen für alles, was dann geschmacklich kommt, das mehr oder weniger unverfälscht sozusagen spielen zu lassen. Das ist das, was eigentlich die Idee ist beim Aperitif.“

(Advertorial) Dieser kurze, aber prägnante Ausspruch von Joseph II, Kaiser von Österreich und König der Ungarn, um das Jahr 1790 markiert den Beginn einer außergewöhnlichen Spirituosen- und Marken-Karriere. Unicum ist ein nach einem uralten Geheimrezept hergestellter bitterer Kräuterlikör aus Budapest. Eine einzigartige Spezialität, die auch in Deutschland immer mehr Freunde findet.

Das spielt ja auch auf die Historie an, in der Kräuter als Heilmittel genutzt wurden, und woraus sich die modernen Produkte irgendwie entwickelt haben. Ist das heute noch ein Thema?

„Das war früher, also sagen wir noch in der Generation meiner Eltern, sicher ein Thema, heute eher nicht mehr, dazu fehlt die Bitterkultur bei den Jüngeren hierzulande. In Italien ist das schon durchaus noch so. Das ist auch mit Deutschland das Land, in dem am meisten Kräuterbitter konsumiert werden, Amaro eben. Es geht heute darum, dieses Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Genuss zu bearbeiten. Wir müssen die Konsumenten davon überzeugen, dass so ein Likör eben nicht nur eine Böllerbrühe ist, sondern ein hochqualitatives, hochwertiges Produkt. Wir bei Jägermeister positionieren uns da klar, wir nennen das „Best Night of your life“ (lacht). Bei der ganzen Diskussion um die Schädlichkeit von Alkohol vergessen viele, dass es sich dabei um ein Kulturgut handelt, mit langer Geschichte und Tradition, und das muss man lebendig halten. Durchaus eine Mammutaufgabe.“

fizzz 04/2024

Themen der Ausgabe

Juliane Winkler, Berlin

Juliane Winkler, die Restaurantleiterin des „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin liebt ihren Beruf. Und setzt sich mit
#proudtokellner dafür ein, dass er mehr Wertschätzung erhält.

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