Themen der Ausgabe
Wir Weinliebhaber werden oft nach denkwürdigen Weinmomenten gefragt, nach Weinen, die uns besonders berührt haben. Da kommt für mich unweigerlich das Thema Zeit ins Spiel und ich nehme das zum Anlass, mal wieder ein Plädoyer für gereifte Weine zu halten.
Neulich durfte ich gemeinsam mit internationalen Weinexperten an einem Tasting der Cantina Terlan in Südtirol teilnehmen. Für die Terlaner spielt das Thema Zeit seit vielen Jahren eine große Rolle. Seit 1979 werden für ihre Sonderedition Terlaner Rarität die besten Jahrgänge für zehn bis 30 Jahre auf der Feinhefe gereift, bevor sie abgefüllt werden.
Zunächst lagern die Weine für 12 Monate in großen Holzfässern, bevor sie für mindestens ein Jahrzehnt auf die Feinhefe kommen. Derzeit ruhen 18 Jahrgänge in den liegenden Stahltanks im Keller und warten auf das perfekte Timing zur Abfüllung. Das erfordert Geduld. Wenn der Oenologe dann den richtigen Zeitpunkt definiert, werden die Weine abgefüllt und reifen weitere vier bis fünf Jahre auf der Flasche. Klar, dass es von dieser besonderen Rarität nur eine begrenzte Stückzahl gibt. Wer davon probieren darf, kann sich glücklich schätzen. Der Wein hat es definitiv in sich. Wir durften die Jahrgänge 2008, 1991 und aus der Schatzkammer die Terlaner, die übrigens traditionell aus den Rebsorten Weißburgunder, Chardonnay und Sauvignon Blanc vinifiziert werden, aus den Jahrgängen 1971, 1966 und 1955 verkosten. Was für eine unglaubliche Frische, Vielschichtigkeit, Vitalität, Salzigkeit und Komplexität da im Glas strahlte – das erlebt man nur selten. Und – wenn man den Jahrgang 1955 separat betrachtet – wird einem plötzlich bewusst, dass über die Jahrzehnte drei Kellermeister über den Wein gewacht haben. Das zum Thema Zeit. Und man lernt, dem Wein im Allgemeinen mit mehr Ehrfurcht zu begegnen. Wein ist nie ein schnelllebiges Produkt, sondern eins, das auf Langfristigkeit angelegt ist.
Einen gereiften Wein zu öffnen ist immer spannend, quasi eine Abenteuerreise in die Vergangenheit. Und Vertikalproben sind immer auch lehrreich. Nirgendwo sonst hat man die Möglichkeit, den individuellen Fingerabdruck einer Lage, Jahrgangsschwankungen und das Können des Winzers so deutlich zu sehen wie bei einer Vertikale. Trinkreife lässt sich nicht mathematisch berechnen, sie variiert von Wein zu Wein und manche Weine brauchen Jahre, um ihre Komplexität voll zu entfalten.
Auch wenn Projekte wie solche der Cantina Terlan selten sind, lernt man von diesen Tastings vor allem eins – Demut. Und Respekt vor der Arbeit des Winzers. Viele Weine, die eigentlich etwas Reife vertragen könnten, werden viel zu jung getrunken. Deshalb meine Bitte an Sie: Geben Sie den Weinen Zeit zum Reifen, denn wirklich große Weine erkennt man oft erst Jahrzehnte später. Und dann erlebt man auch einen solchen Weinmoment, den man so schnell nicht mehr vergisst.
Ilka Lindemann, Chefredakteurin [email protected]