Im Experten-Talk zur Zukunft „alkoholfreier Spirituosen“ möchten wir die Unklarheiten um die Trend-Kategorie klären.
Im Experten-Talk zur Zukunft „alkoholfreier Spirituosen“ möchten wir die Unklarheiten um die Trend-Kategorie klären.

Dry January: Experten-Talk zur Zukunft „alkoholfreier Spirituosen“

Alkoholfreie Destillate sind eine absolute Trendkategorie, der sich niemand mehr ernsthaft verschließen kann. Die aromatische Qualität steigt stetig, und die Nachfrage bei den Verbrauchern zieht mit. Doch die Fragezeichen sind mindestens ebenso groß. Wir haben vier Experten um Aufklärung gebeten. 

Text: Tim Allgaier

Alkoholfreie Spirituosen“ sind ein kontroverses Thema innerhalb der Bar-Community. Der ein oder andere gestandene Barkeeper rümpft auch heute noch verächtlich die Nase, wenn die Nachfrage nach einem alkoholfreien Cocktail oder gar nach dem trendigen „alkoholfreien Gin“ kommt. Dabei liegen die Vorteile doch auf der Hand: Man kann als Gastronom ganz neue Zielgruppen ansprechen und qualitatives wie finanzielles Upselling gegenüber Wasser und Kola betreiben, indem man den Nicht-Trinkenden auch etwas Kreativeres anbieten kann. 

Zugegeben, die Anfänge der alkoholfreien Destillate waren holprig. Fehlendes technisches Know-How und einige aromatische Fehltritte ließen geneigte Genießer zurecht kritisch auf die neuen Player blicken. Doch die Zeiten liegen hinter uns. Siegfried Wonderleaf – der Pionier im deutschen Raum – ist bereits seit 2018 auf dem Markt und seither vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein neuer Launch angekündigt wird – teils von großen Namen aus der Spirituosenindustrie, teils von Startups, die sich komplett der alkoholfreien Schiene verschrieben haben. Im vergangenen Jahr hat auch der International Spirits Award ISW die Kategorie in das Experten-Tasting mit aufgenommen und bereits im zweiten Jahr ließ sich eine deutliche Steigerung – quantitativ wie qualitativ – der eingereichten Proben feststellen. Die Vielfalt ist beeindruckend und macht Lust auf mehr. 

Am Rande des letztjährigen Genussfestivals „Finest Spirits“ traf sich die Expertenrunde (Foto: Redaktion)
Am Rande des letztjährigen Genussfestivals „Finest Spirits“ traf sich die Expertenrunde (Foto: Redaktion)

Wir haben vier Expertinnen und Experten zum Gespräch geladen, um einen tieferen Einblick in die Welt der alkoholfreien Zukunft zu erhalten. Mit uns am runden Tisch: Angelica Schwarzkopf, Portfolio Markenbotschafterin für die Gastronomie in Süddeutschland bei Bacardi und zuständig für den Fokus „Aperitif und Mindful Drinking“, u.a. mit der alkoholfreien Martini-Range, Mirek Stellmacher, Brand Ambassador für Lyre’s, mit mittlerweile 16 Produkten der global größte ausschließliche Anbieter für Non-Alcoholic Spirits, Jo Dunkel, Produzent von Edition Dunkel – Lain & Füm (ehemals „Wald & Rauch“), einem Schweizer Startup für neuartige alkoholfreie Destillate, und Jörg Kalinke, Brand Manager Spirits bei Schlumberger, seit Kurzem u.a. Vertriebspartner der Windspiel Manufaktur mit mittlerweile zwei alkoholfreien Produkten im Portfolio.

Die erste Frage in den Raum: Worüber reden wir eigentlich? Umgangssprachlich ist zwar immer von „alkoholfreien Spirituosen“ die Rede, folgt man der EU-Spirituosenverordnung und aktueller Rechtsprechung, kann es den Begriff jedoch nicht geben, da eine Spirituose mindestens 15 % Vol. Alkohol enthalten muss. Jörg Kalinke ist sich sicher, dass die Umgangssprache sich über kurz oder lang durchsetzen wird: „Bei der Einführung des alkoholfreien Biers hatten wir eine ähnliche Situation und große deutsche Brauereien haben dagegen geklagt, dass die Produkte als Bier verkauft werden. Künstliche Wortfindungen halte ich für falsch – alkoholfreie Spirituosen sind ein Genussmittel, nur eben ohne bzw. mit sehr wenig Alkohol, daher halte ich das Wort „Spirituose“ für vollkommen legitim.“ 

Mehr als alkoholfreier Gin

Auch Mirek Stellmacher geht davon aus, dass das Wording auch legal in Richtung „Spirituose“ gehen sollte und zieht den Vergleich mit veganen Milch- oder Wurstalternativen: „Dort fallen die ‚Verbote‘ ja auch immer mehr. Es findet keine Verbrauchertäuschung statt, sondern nur eine Einordnung – eine Art Gebrauchsanleitung wird mit vermittelt.“ Angelica Schwarzkopf führt Vorteile und Besonderheiten ihrer Range an: „Wir bei Martini können das Wording galant umgehen, da unsere Produkte als ‚entalkoholisierter Weinaperitif‘ kategorisiert werden. Die Weißweinmischung ist, bevor sie entalkoholisiert wird, die gleiche wie für die regulären Martini-Produkte, daher ist auch die Weinaromatik erstaunlich nah dran am Original.“ 

Jo Dunkel (Foto: Maurice Grünig)
Jo Dunkel (Foto: Maurice Grünig)

„Es gab immer wieder Getränke, die als chancenlos abgestempelt wurden.“

Jo Dunkel
Edition Dunkel

Jo Dunkel steht als einziger in der Runde für ein wirklich 100 % alkoholfreies Produkt, das sich nur schwerlich mit bestehenden Spirituosenkategorien vergleichen lässt: „Ich wollte von Anfang an kein Derivat – nicht einfach einen alkoholfreien Gin machen. Ich wollte einen eigenen Weg gehen und ausschließlich mit Hydrolaten auf Wasserbasis arbeiten.“ Die Aromatik von Wacholder löse sich nicht gut in Wasser, daher sei ein klassischer alkoholfreier Gin ohnehin kaum möglich, argumentiert Jo Dunkel.

„Es war mir auch klar, dass es nicht einfach sein wird, das zu verkaufen“, so Dunkel weiter, „aber manchmal muss man eben stur bleiben.“ Lockt die Assoziation zum Trend-Thema Gin die Leute eher zum Probieren an? Jörg Kalinke ist fest der Meinung: „Ohne den Gin-Hype wäre der Aufstieg der alkoholfreien Destillate sicher nicht so schnell gekommen. Für den heutigen Gin-Trinker steht Wacholder aber nicht mehr zwingend im Vordergrund, daher muss auch der ‚alkoholfreie Gin‘ nicht unbedingt nach Wacholder schmecken.“

Mirek Stellmacher
Mirek Stellmacher

„Manchmal wird man in der Gastronomie fragwürdig beäugt und belächelt.“

Mirek Stellmacher
Brand Ambassador, Lyre's

„Es gab immer wieder Getränke, die als chancenlos abgestempelt wurden“, meint Jo Dunkel. „Die Leute in der Bar und der gehobenen Küche sind die, die man überzeugen muss, damit sie zu Botschaftern der Marke werden.“ Das stetig steigende Interesse für gehobene Gastronomie und feinen Genuss eröffnet dabei Chancen für Nischen-Produkte abseits des Mainstream-Geschmacks. Für Angelica Schwarzkopf ist es die Aperitif-Welle, die den Alkoholfrei-Trend befeuert. Mirek Stellmacher sieht seine breite Range an klassischen Mix-Spirituosen als perfekte Sparringspartner: „Wir können andere Produkte an der Bar optimal ergänzen – egal ob in Drinks mit oder ohne Alkohol.“

Gastro als Katalysator

Wie steht es aber mit der konkreten Nachfrage? Die sei bei den Endkonsumenten aktuell wesentlich höher als bei einigen Gastronomen. „Gerade wir als Gastronomen sollten doch niemanden ausschließen. In meiner täglichen Arbeit sehe ich aber so häufig Barkarten, die total unkreative alkoholfreie Alternativen listen“, meint Angelica Schwarzkopf und findet, da müsse mehr gehen: „Wann immer wir mit den Gastronomen gemeinsam verkosten, ausprobieren und an Rezepten arbeiten, steigen die Akzeptanz für die Kategorie ‚Alkoholfrei‘ und das Verständnis für die Produkte enorm.“

Mirek Stellmacher macht regelmäßig ähnliche Erfahrungen, wenn er seine Produkte präsentieren möchte: „Manchmal wird man fragwürdig beäugt und belächelt – doch sobald probiert wird, finden sie Gefallen daran.“ Die Gastronomie bleibt für Stellmacher die Hauptzielgruppe, da man mit der Lyre’s-Range interessierten Barkeepern ermögliche, nahezu jeden klassischen Drink nachzumixen. 

Angelica Schwarzkopf
Angelica Schwarzkopf

„Gerade wir als Gastronomen sollten doch niemanden ausschließen.“

Angelica Schwarzkopf
Portfolio Markenbotschafterin Gastronomie, Bacardi

„Mit einer großen Marke wie Martini oder Windspiel hat man einen Vorteil, da die Leute – privat wie Gastronom – eine Assoziation haben und wissen, dass Kompetenz dahinter steht“, meint Jörg Kalinke, der in den sozialen Medien regelmäßig mit der großen Nachfrage nach alkoholfreien Alternativen konfrontiert wird. „Das Verlangen kommt vom Endverbraucher und es bräuchte die Bars als Katalysatoren.“ Für Jo Dunkel liegen die wichtigsten Ansprechpartner in der gehobenen Gastronomie, nicht zuletzt auch in der Küche: „Das sind Künstler, die etwas entwickeln möchten und dafür stetig Neues suchen.“ Am Ende gehe es dort an erster Stelle um Genuss, egal ob mit oder ohne Alkohol.

Die Vorteile für die Gastro sind also offensichtlich, doch worin bestehen die Nachteile? Der Preis wird häufig ins Feld geführt, dabei müsste der nach Ansicht der Experten bei der äußerst aufwändigen Herstellung teilweise sogar noch höher sein. Ein weiteres Thema ist die Haltbarkeit: die Abwesenheit des konservierenden Alkohols stellt die Hersteller und Verbraucher vor Herausforderungen; die Entwicklung und Rückstellproben der Hersteller deuten aber darauf hin, dass die Zeitspanne für unbedenklichen Konsum sich stetig ausweiten wird. Wie bei allen Lebensmitteln bedarf es eben ein wenig gesunden Menschenverstandes beim Genuss.

Jörg Kalinke (Foto: Christoph Grothgar Photography)
Jörg Kalinke (Foto: Christoph Grothgar Photography)

„Es ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, das wir vom Alkohol abrücken.“

Jörg Kalinke
Brand Manager Spirits, Schlumberger

Genauso bei der Begrifflichkeit „Alkoholfrei“ – 0,0 % Alkohol enthalten nur die wenigsten Produkte, bis zu 0,5 % vol. sind gesetzlich erlaubt – und natürlich gebe es Gruppen, denen auch vom Konsum „Alkoholfreier Spirituosen“ abgeraten werden sollte. „Offen Kommunizieren“, ist für Jörg Kalinke das Stichwort: „Alkoholfrei ist eine Suggestion.“ Mirek Stellmacher ergänzt: „Da sagen wir ganz offen: Unsere Produkte sind auch geschmacklich sehr nah dran an regulären Spirituosen.“ Daher sind auch alle Experten der einhelligen Meinung, dass die alkoholfreien Produkte neben den „richtigen“ Spirituosen korrekt platziert sind. Nichtsdestotrotz stehen wir vor einer gesellschaftlichen Zeitenwende: „Es ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass wir vom Alkoholgenuss abrücken“, konstatiert Jörg Kalinke. „Viele möchten ja nicht nur alkoholfrei trinken, sondern vielleicht weniger und eben ab und an die Option haben.“ Genuss sei unabhängig davon so gefragt wie nie – es entwickelt sich ein Lifestyle, der Gesundheitsbewusstsein nicht ausschließt und dem müsse sich die Konsumwelt und die Gastronomie anpassen.

Zeitenwende

„In den nächsten zwei bis drei Jahren wird wahrscheinlich jede Firma aus unserer Branche eine alkoholfreie Alternative auf den Markt bringen – egal ob sie sich an einer Spirituose orientiert oder etwas Neues aufgreift“, ist sich Angelica Schwarzkopf sicher. Mirek Stellmacher sieht den Aufstieg optimistisch wie realistisch: „Lyre’s gehört im Alkoholfrei-Segment definitiv zu den Großen, im Spirituosenbereich allgemein aber sind wir ein aufstrebender Stern.“ 

Jo Dunkels Herzensprojekt ist seit Kurzem auch in Deutschland über Charles Hosie im Vertrieb und gehört zu den am stärksten nachgefragten Marken im Portfolio. Trotz langer Tradition im Bereich Alkohol listet man dort bereits zwei alkoholfreie Produkte. Dunkel ist sich dementsprechend sicher, dass es nur in eine Richtung gehen kann: „Jeder – ob aus Überzeugung oder nicht – hat den Wunsch, bei diesem Trend dabei zu sein und den Wandel nicht zu verschlafen.“ Oder um mit seinen Worten abzuschließen: „Manchmal muss man eben stur bleiben.“

fizzz 04/2024

Themen der Ausgabe

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Juliane Winkler, die Restaurantleiterin des „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin liebt ihren Beruf. Und setzt sich mit
#proudtokellner dafür ein, dass er mehr Wertschätzung erhält.

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