Text: Mia Bavandi
Als Überbrücker der Zeit bis zum Abendessen, gesellschaftlicher Eisbrecher und Magenöffner wird der Apéritif oft bezeichnet. Für alle, die die Charakteristik des Apéro, wie die Schweizer ihren alltäglichen Pflichttermin bezeichnen, nüchtern kategorisch erfassen wollen, sei Wikipedias Definition angebracht: „Ein Apéritif ist ein meist alkoholisches Getränk, das vor dem Essen konsumiert wird, um den Appetit anzuregen und auf die bevorstehende Mahlzeit einzustimmen. Er ist ein fester Bestandteil in den romanisch beeinflussten Kochtraditionen wie der französischen und italienischen Küche“. Basta. C’est ça?
Bien sûr non!
So pragmatisch und traditionell kann der Aperitivo, muss und soll er aber keineswegs sein. In seiner mediterranen Provenienz wird er meist auf jeweils regionale Art beharrlich zelebriert. Dabei ist es vor allem der gesellschaftliche Aspekt, der in südeuropäischen Gefilden im Vordergrund steht. Der Apéritif bedeutet ein Ritual, eine Alltagsgepflogenheit und gesellige, gemeinsame Zeit mit typischen Apéritif-Getränken und kleinen Häppchen - Appetitmachern. Er ist Erlebnis und stiftet Lebensgefühl, das bei jedem Treffen mit Nachbarn, Freuden und Arbeitskollegen vor dem abendlichen Essen entsteht oder gleichsam bei einer eigens initiierten Apéro-Ausweitung wie in Frankreich. Dort gibt es auch den so genannten und erweiterten „apéro dinatoire“ in Form eines legeren Dinnerabends. Das hiesige Feierabendbierchen kommt dem Ansatz dieser geselligen Attitüde zwar nahe, zeigt sich aber meist nur kurzweilig, ohne in lange Aperitif-Momente auszuschweifen, die manchmal mehr als bloß in Form einer Ouvertüre in das nächtliche Vergnügen leiten.

Rezepte, die den Abend feiern, präsentieren Stevan Paul und Daniela Haug in ihrem Buch "Blaue Stunde". Sie folgen dem Sonnenuntergang einmal rund um die Erde – von Samoa, wo die Sonne zuerst untergeht, über Australien, Japan, Indien, Europa, Marokko, Brasilien bis in die USA und nach Mexiko – und erleben die Blaue Stunde mit italienischen Cicchetti, spanischen Tapas, griechischen Mezze, mit Tacos, Tortillas und Ceviche. Ein lässiges Vergnügen, serviert mit viel Musik, unkompliziert, einfach und wohltuend. Ein Fernweh-Kochbuch voller bunter Geschichten, für Freunde und Gäste, für Partys und Feste. Elegant und entspannt!
Schaumwein, Bitterliköre oder doch ein Bier?
Französischer Champagner oder Crémant, spanischer Cava oder österreichischer Sekt, Biere oder ein kühler Apéritif-Wein zählen zu den klassisch servierten Getränken zu Beginn des Abends. Hinzu kommen Bitterliköre, Wermut, weißer Portwein, Sherry, italienische Amari, Cidre in Nordfrankreich, Pastis in Südfrankreich, gestärkte Weine oder auch ein kleines Bier. Das im Zuge des allgemein gestiegenen Gesundheitsbewusstseins ebenfalls erhöhte Verlangen nach Low- und sogar No-ABV-Getränken ergänzt den Apéritif in seiner heutigen Breite. Diese wird zudem durch eine beherzte Armee an neuen Apéritif-Likören in zucker- und alkoholreduzierter Machart mit verschiedensten Basis-Zutaten für Spritzgetränk-Variationen angereichert. Bitterliköre eignen sich hervorragend, mit Tonic, Soda oder Schaumwein aufgespritzt zu werden. Der neuerliche Siegeszug des klassisch-italienischen Negroni-Cocktails, eines Negroni Sbagliato, Dry Martini oder Americano zum Aperitivo hängt einerseits ein wenig mit der Renaissance der klassischen Barkultur zusammen. Und bestimmt auch ein wenig mit dem gewachsenen Interesse an für den Aperitif bestens geeigneten Bittergeschmäckern.
Get together, bei uns um die Ecke
Immer mehr Barbetreiber und Restaurants integrieren den Apéritif-Moment in ihre Konzepte. Damit inszenieren sie mediterrane Lebensfreude, wecken sommerliche und kommunikative Stimmung und kreieren auch jene gerade im mediterran angehauchten Europa unvergleichliche Atmosphäre, die das Get together verströmt. Im südlicheren Teil Deutschlands und gerade in München, der nördlichsten Stadt Italiens, kommt fast niemand an diesem Genussstil vorbei, doch auch auf norddeutschen Terrassen verbreitet sich dieses stimmige Lebensgefühl zusehends. Der Apéritif kann Appetitanreger sein - im besten Fall Anreger zu seiner selbst. Laut Reinhard Pohorec, Sensorik-Experte und Erlebnisdesigner, kann „der Apéritif bereits die große Oper sein“.