Interview: Mia Bavandi
fizzz: Aperitivo – ist gerade in aller Munde. Viele Bars integrieren das aperitif’sche Trinken vermehrt in ihr Konzept. Warum erlangt der Aperitif außerhalb seiner mittel- und südeuropäischen Provenienz nun so viel Aufmerksamkeit?
Reinhard Pohorec: Ich würde das an mehreren Punkten festmachen. Zum ersten ist eine Veränderung von Geschmacksprofilen und gelernten Geschmäckern in der Breite festzustellen. Bitterkeit scheint die neue Avantgarde zu sein, hat sich auch im Geschmack durchgesetzt und den Weg in den Mainstream gefunden. Kräuter, Bitter, Wermut, verstärkte Weine und alle Amaris dieser Welt haben einen enormen Aufschwung erlebt und sind im Apéritif-Moment verankert und verortet. Als weiteren Gesichtspunkt würde ich natürlich das Low-ABV-Segment erwähnen, das durch das gestiegene Gesundheitsbewusstsein und den Verzicht auf zu viel Alkohol mehr an Bedeutung gewinnt. Durch Low-ABV-Getränke auf Basis von Wermut, Bitter oder Amaro zum Beispiel nimmt man weniger Alkohol zu sich und hat trotzdem ein volles Geschmackserlebnis. Hier hat das Bitterelement besondere Bewandtnis erlangt. Bitter- und Aperitif-Liköre sind gerade im Apéritif-Bereich gut aufgehoben. Zudem ist auch die Einfachheit in der Zubereitung ein Thema. Apéritif- und Spritzgetränke sind schnell und einfach zuzubereiten. Werden Wermuts, verstärkte Weine oder Aperitif-Liköre beispielsweise mit einem Filler versetzt, ergeben sie leicht und schnell ein spannendes Getränk, das auch massentauglich ist. Das bringt uns zum letzten und wichtigsten Punkt.
Welcher wäre?
Reinhard Pohorec: Der Konsum von Alkohol ist immer auch mit Eskapismus verbunden. Wir erleben es gerade: Corona, der Krieg - in solchen Zeiten lehnt man sich doch gerne einmal zurück und gönnt sich einen Drink. Mit diesem Eskapismus geht auch ein Lebensgefühl einher, das schon der Apéritif freizusetzen vermag. Der Aperitif bildet also nicht nur eine Getränkekategorie, sondern vermittelt Leichtigkeit und ein Lebensgefühl, dem wir uns besonders auch dann gerne hingeben, wenn die Arbeit vorbei, man aber noch im Tag ist, ein leicht-alkoholisches Getränk und vielleicht die Sonne genießt, einfach die Seele baumeln lässt. Der Apéritif-Moment als Gesamtpaket steht für Leichtigkeit und Lebensgefühl, mit dem wir uns atmosphärisch und emotional möglicherweise auch in mittel- und südeuropäischen Reisezielen wähnen können. Dort sind der Apéritif und seine Produktpalette ursprünglich verortet. Die mitteleuropäische Reise- und Genusskultur scheint gerade wiederentdeckt zu werden, und alteuropäische Reiseziele gewinnen wieder mehr an Gewicht. Es müssen doch nicht immer die Malediven sein, wenn die Amalfiküste oder ein bayrischer See so nahe liegen.
Liegt es an der Jahreszeit und gar an der scheinbaren Endemie, die unseren Drang verstärkt, im Sinne der Apéritif-Charakteristik zusammenzutreffen?
Reinhard Pohorec: Sich zu treffen, auszutauschen, zusammen zu sein und zu genießen – ja, das entspricht absolut der Charakteristik des Apéritif. Aber es ist nicht so, dass dieser gerade jetzt, hier und heute modern geworden ist. Ich würde ihn auch keineswegs mit der Pandemie in Verbindung bringen. Der Apéritif hat bereits vor Corona stärkere Aufmerksamkeit erlangt. Ich glaube, der Aperitif-Moment bietet auch eine Gelegenheit, das Fernweh oder die Lust auf Reisen ein wenig zu stillen. Und er ist ein Ganzjahresphänomen, mit dem man den Sommer und das damit verbundene sonnig-warme Lebensgefühl herbeiführen und hinauszögern, sich gefühlt in die warme Jahreszeit hineinversetzen kann.
Welche Geschmäcker sollten in dem Getränk, das ursprünglich vor dem Abendessen konsumiert worden ist, eine Rolle spielen?
Reinhard Pohorec: Man sollte die Kirche im Dorf lassen. Kein Mensch, der heute Aperitivo trinkt, macht sich darüber Gedanken, ob dieser den Magen öffnet. Das ist eine Mär aus dem Mittelalter, wo Ernährung eine ganz andere Rolle als heute gespielt hat. Ich höre selten, dass sich jemand darüber Gedanken macht, es spielt eine untergeordnete Rolle. Wenn doch, ist es eine Reminiszenz an früher, und weil man es so gelernt hat. Von der jüngeren Generation vernehme ich so gut wie nie, dass sie Aperitifs oder auch Digestifs in den Ernährungskontext stellt. Die Geschmackswelt besetzt man in der Apéritif-Zubereitung gerne mit Bitter-, Kräuter- oder auch Zitrusnoten in verschiedenen Formen. Heute spricht man nicht mehr einfach von Zitrone oder Orange, sondern von Bergamotte, Yuzu, Pomelo oder Meyer-Zitrone. Die ganze Aperitif-Kultur ist breiter geworden. Fein bei diesem Thema ist, dass man die Süße konterkariert oder hinter der Bitternote kaschiert. Natürlich trinkt man mit Campari auch sehr süß, es ist nur nicht so offensichtlich als würde man sich Frangelico pur einschenken. Es ist avantgardistisch. Man gibt sich ein wenig als Connaisseur, der viele Jahre zuvor schon Gin und Tonic bestellt hat und heute Negroni favorisiert.

"Der Apéritif hat eine völlige Eigenständigkeit erreicht und ist nicht mehr an die Tageszeit oder geografische Verortungen gebunden."
Nun abgesehen von der Mär über den „Magenöffner“ gilt der Aperitivo als mentale Einstimmung in den Abend?
Reinhard Pohorec: Ein mentaler Wegbereiter für oder die Überleitung in den Abend, ganz bestimmt. Aber wenn man beispielsweise an Mailand denkt, dort am späten Nachmittag entspannt ein Apéritif-Getränk konsumiert, weil der Arbeitstag vorüber ist, man noch nicht essen oder nach Hause gehen will, eine Étagère und Assortiments an Snacks aufgetischt bekommt, dann will man vielleicht gar nicht mehr weg und bleibt einfach sitzen. Der Aperitivo bildet keine Überleitung mehr, sondern ersetzt vielleicht das Dinner und Afterdinner. Man will nicht anders, als im Apéritif-Moment zu verweilen.
Das bedeutet, die Grenzen der Trinkkultur verschwimmen, der Apéritif ist in der Trinkabfolge nicht mehr gesondert zu sehen?
Reinhard Pohorec: Ich finde, durch die eben vorweg genannten Kriterien kann man Aperitif eher als Lebensgefühl betrachten, der nicht unbedingt einer gesonderten Inszenierung bedarf. Manche seiner Momente erheben ihn dazu, bereits die große Oper und nicht das Vorspiel zu sein.
Seine Wahrnehmung und Inszenierung haben sich geändert?
Reinhard Pohorec: Der Aperitif ist viel breiter geworden. Das hat auch einen gesellschaftlichen und sozio-kulturellen Aspekt, weil wir heute nicht mehr in festen Normen und Etiketten leben. Ist man früher schön essen gegangen, fand man eine Batterie an Besteck auf der Tafel. Entsprechend der traditionellen Inszenierung folgten auch die Speisen der vorgegebenen Rangfolge: zuerst Canapés, Salat, Vorspeise, Suppe, es wurde alles immer auf gleiche Weise inszeniert. Diese kulinarischen Normen sind aufgebrochen. Heute packt man sieben Gerichte gleichzeitig in die Tischmitte, teilt oder isst überhaupt nur zwei Gänge. Die strikte Etikette gibt es nicht mehr. Insofern hat auch der Aperitivo seine Funktion, in eine solche Inszenierung eingeordnet zu werden, verloren. Apéritif ist nicht mehr ein Teil einer chronologischen Abfolge. Er hat auch ein Gefühl für sich avanciert, erreicht völlige Eigenständigkeit und ist nicht an die Tageszeit oder geografische Verortungen gebunden. Er hat sich emanzipiert, funktioniert und spiegelt als Kategorie vor allem Lebensgefühl wider.