Wolfgang Hingerl und Moritz Meyn; Foto: Lenka Li Lilling
Wolfgang Hingerl und Moritz Meyn; Foto: Lenka Li Lilling

„30.000 Kilometer für Wein“

Wir trafen Wolfgang Hingerl gerade während einer Weinreise an. Im Interview spricht der Sommelier, Gastgeber und kreative Kopf der Münchner Mural-Gruppe vom jüngsten ­Zuwachs, dem Farmhouse. Und erklärt, wie man gleich vier Weinkarten am Pulsieren hält.
Interview: Paul Kern

Nach dem Restaurant Mural, der Bar Mural und der Bar Bambule hat im Sommer das Farmhouse eröffnet. Wieso braucht München ein viertes Mural-Restaurant?
Es sind ja keine vier Mural-Restaurants. Unsere Betriebe haben alle einen ganz eigenen Charakter, man könnte sagen: Geschwister, aber keine eineiigen Vierlinge! Das verbindende Element ist immer unser Motto „eat local, drink natural“, aber egal ob Mural Restaurant, Bar Mural, Bambule! Bar und nun eben auch das Mural Farmhouse gestaltet jeder Betrieb dies ganz eigenständig aus. Das Mural Farmhouse macht das vielleicht sogar am radikalsten. Hier bauen wir auf rund 1.000 Quadratmetern unser eigenes Gemüse, Kräuter und mehr auf der Dachterrasse an, nur sieben Stockwerke über der Küche.

Was gibt es im Farmhouse sonst, was es in euren anderen Läden nicht gibt?
Das Mural Farmhouse vereint fünf Bereiche unter einem Dach: Café, Bar, ab Winter auch eine Rooftop-Terrasse mit Streetfood-Konzept, ein À-la-carte-Restaurant und einen Fine-Dine-Bereich. Das heißt, das Mural Farmhouse hat ab acht Uhr geöffnet für Frühstück, man kann zu Kaffee und Kuchen aus unserer eigenen Patisserie am Nachmittag kommen, und abends hat man auch die Wahl, auf was man Lust hat, ob leger im ­À-la-carte oder Fine-Dine. Das Credo ist dabei: Egal in welchem Bereich ich als Gast bin, ich habe immer genau die gleiche Qualität auf dem Teller, in der Tasse oder im Glas. Wir machen da keinen Unterschied – brutal lokal sowieso. Aber darauf setzen wir ja bei allen Betrieben, nur haben wir da eben kleinere Hochbeete und nicht eine so große Dachterrasse.

Man kennt dich als Gastgeber und Sommelier, mit vier Läden bist du aber auch Gastro-Unternehmer und Geschäftsführer geworden. Wer hält dir im Farmhouse in Sachen Wein den Rücken frei und was zeichnet ihn aus?
Im Mural Farmhouse ist Maxime Joly unser Sommelier. Wer ihn erlebt, weiß sofort, was ihn auszeichnet: Ein immenses Fachwissen, eine Neugierde, ein großes Verständnis für die Küchen-Philosophie von Rico Birndt und Mut, Unbekanntes auch mal ins Glas einzuschenken und dann wieder einen richtigen Klassiker zu kombinieren. Es macht große Freude mit Maxime. Und mal ganz abgesehen davon: Er hat einen so schönen französischen Akzent, man hört ihm einfach gerne zu! Das gilt auch für Felix Rottensteiner und seinen südtiroler Zungenschlag, der im Operations-Team unserer Gruppe ein super Sommelier ist!

Gastro-Nerds dürfte es interessieren: Ihr habt vier Läden mit individueller Weinkarte, abseits der breitgetretenen Pfade. Wie organisiert man da den Einkauf?
Wir kennen alle „unsere“ Winzer. Von etwa zehn Produzenten beziehen wir direkt, aber die Beziehungen pflegen wir zu allen, auch auf sehr persönlicher Ebene. Wenn es sich ergibt, kaufen wir als Team Mural, aber wir führen in allen Betrieben viele unterschiedliche Weine. Manche passen einfach nicht in alle Betriebe und unser Anspruch ist immer, dass die Weine auch getrunken werden. Und deswegen kaufen wir auch einzeln ein.
Wir haben im Mural eine Weinkarte mit rund 1.100 Positionen, in der Bar Mural sind es 400 und sogar in der Bambule! Bar aktuell fast 300. Diese Auswahl erreichen wir mit einem engen und sehr vertrauensvollen Händlernetz. Aktuell sind das mehr als 20 in ganz Europa, die wir alle sehr schätzen. Raritäten sichern wir uns natürlich auch mal auf dem Sekundärmarkt.

Weil du die Raritäten ansprichst: Von der Champagne, über das Jura, bis nach Rheinhessen wird es immer schwieriger, die gefragten Weine zu beziehen. Kommt ihr an alles dran, das ihr gerne auf der Weinkarte haben wollt?
Wenn ich jetzt „ja“ sage, dann klingelt mein Telefon ja nur noch und alle wollen wissen, wie wir das machen (lacht). Ich sage es mal so: Wie immer kommt es auf einen guten Kontakt an, den man auch pflegt, wenn man selbst mal nichts möchte oder braucht. Das zahlt sich dann auch und gerade in Zeiten aus, in denen es auf dem Markt schwieriger ist. Und wenn etwas, was ich mir in den Kopf gesetzt habe, einfach nicht zu haben ist, dann lassen wir uns eben eine Alternative einfallen. So entdeckt man immer wieder Besonderes.

Ihr zieht junges, großstädtisches und oft hippes Publikum an. Wie wichtig sind da attraktive Preise?
Es muss immer ein faires Angebot geben. Wir kalkulieren mit Aufschlägen vom Faktor zwei bis vier. Bei ganz raren und teuren Flaschen vom Sekundärmarkt ist es nochmal anders. Selbst wenn man da für den Gastronomen schlecht kalkuliert, wird es für den Gast fast unbezahlbar. Sowas betrachten wir dann als Liebhaberstücke, schlagen 50 bis 100 Euro drauf und wieviel wir an den paar Flaschen dann verdienen, ist zweitrangig. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass man die Marktpreise mittlerweile im Internet finden kann. Da sieht man, dass wir fair sind. Weil, man darf auch die Arbeit dahinter nicht unterschätzen. Wir reisen allein jedes Jahr 20.000 bis 30.000 Kilometer nur für Wein. Gastronomen, die das nicht machen, würden ja deswegen nicht weniger kalkulieren.

Du begleitest jetzt schon seit fast zehn Jahren, getreu eurem Motto „drink natural“, die sogenannte Naturweinbewegung. Wie lebendig ist das Thema in deinen ­Augen derzeit noch?
Es ist in viele verschiedene Ecken abgedriftet: einige sind Naturtalente und es passt alles, bei manchen ist es einfach zu freakigem, fehlerhaftem Saft geworden und es wird trotzdem in Flaschen gefüllt, weil man was verkaufen muss. Am Ende verschwimmt dann oft die eigentliche Idee und es wird zur reinen Schwefeldiskussion. Wenn die Phase abflacht, können wir uns wieder über nachhaltige, gute Weine mit möglichst wenig Eingriffen unterhalten. Aber ich hoffe, dass sich hier bald was tut. Und dann sind Vins Vivants – da kommt es ja eigentlich her, vom lebendigen Wein – nie tot.

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote