Text: Wolfgang Fassbender
Ein Eigenleben hat die Alte Liebe bekommen. Und was für eines. Wo es doch zu Beginn einfach nur eine coole Kneipe sein sollte, wie es sie in Berlin-Neukölln oder Mitte an jeder zweiten Ecke gibt. Ein paar Naturweine, eine nette Atmosphäre, kreative Kleinigkeiten zum Essen. Die Augsburger waren überrascht und näherten sich. Obwohl auch Naturwein angeboten wurde. Ein Kampf gegen Windmühlen sei es in dieser Hinsicht gewesen, zumindest am Anfang, sagt Benjamin Mitschele, der Küchenchef und Inhaber. Augsburg ist eben nicht Berlin, und manche Skeptiker bezweifeln sogar, dass man überhaupt von einer hiesigen Gastroszene sprechen kann. Doch vielleicht war die Neugier der Menschen gerade deswegen groß. „Die Entwicklung dieser Kneipe ging im Laufe der Zeit immer mehr hin zu einer verfeinerten Küche“, so Benjamin Mitschele. „Irgendwann hat das Ambiente nicht mehr zu den Speisen gepasst.“ 2019 zog das Team in die Alpenstraße und machte sich daran, ein neues, ernsthafteres Konzept zu gestalten. Nur an vier Abenden ist inzwischen geöffnet, an zweien geht es an der Theke und im Gastraum eher bar- und bistrolike zu, während an den beiden anderen – freitags und samstags – die inzwischen vom Guide Michelin mit einem Stern und vom Gusto mit acht Pfannen ausgezeichnete Gourmetküche angeboten wird.
Sommelier
Peter Karl, geboren am 16.06.1977 in Rosenheim
Stationen:
• Einstein Unter den Linden (Berlin)
• Alte Liebe (Augsburg)
Um Auster & Mezcal (Barfood), den Bergkäse mit grünen Erdbeeren und Crackern (Bistrokarte) oder die High-End-Gerichte mit den passenden Getränken zu begleiten, hat Peter Karl eine Weinkarte zusammengestellt, der Dogmen fremd sind; auch das Thema Naturwein wird eher smart, nicht auf penetrante Weise ausgebreitet. Das hängt auch damit zusammen, dass Karl ein Sommelier-Quereinsteiger ist, der, obgleich in Bayern geboren, viele Jahre lang in der Berliner Gastronomie gearbeitet und schon so viel Erfahrung mit Gästen gesammelt hat, dass ihn nichts mehr aus der Fassung bringt. Im Einstein Unter den Linden ging es in önologischer Hinsicht vor allem um Klassisches, etwa von VDP-Weingütern. Auch nicht schlecht. Doch irgendwann merkte Karl, dass es einen beruflichen Weg abseits der klassischen Chef-de-Rang-Position gibt. 2019 wechselte er aus familiären Gründen von Berlin nach Augsburg, fand nicht nur in der Alten Liebe eine neue Heimat, sondern traf zufällig Astrid Löwenberg, die in München seit vielen Jahren jungen Menschen das weintechnische Handwerkszeug beibringt. Bald begann er seine Sommelierausbildung, die er aller Voraussicht nach demnächst abschließen wird. Demut bringt er reichlich mit. „Ich sehe die Weinreise erst als eröffnet an“, sagt Karl und scheint damit nicht nur seine eigene zu meinen, sondern auch die, welche die Gäste der Alten Liebe antreten.
Zumindest eine ganze Anzahl an Spannendem aus der Weinwelt ist schon da und steht auf der rund 300 Positionen umfassenden Karte der Alten Liebe, welche mit Vielfalt beeindruckt, ohne ins Beliebige abzudriften. Dass die Preise nichts mit denen zu tun haben, die man oft in Münchner Restaurants aufzurufen pflegt, ist ein interessanter Aspekt, die für ein junges Restaurant überraschende Jahrgangs- und Erzeugertiefe ist ein anderer.
Aufschläge auf den Einkaufspreis bleiben moderat, was dazu führt, dass man sich eine Flasche Chemins des Terroirs Brut von De Sousa schon für 90 Euro bestellen kann und für den 2017er St. Nikolaus von Peter Jakob Kühn gerade mal 96 Euro investieren muss. Klassiker sind, wie man schon hier, aber auch bei Kühling-Gillot oder Rebholz merkt, keineswegs ausgeschlossen, doch dem Nachwuchs mit nachhaltigem Bewusstsein und Eigenständigkeit gehört Peter Karls besondere Neugier. Odinstal ist mit neun Weinen vertreten, Wasenhaus mit 13, immerhin ein halbes Dutzend Positionen gibt’s von der burgundischen Domaine Chandon de Briailles in Savigny-lès-Beaune. „Es ist nichts auf der Karte, was ich nicht trinken mag“, sagt der Sommelier. Diese Herangehensweise und die Bescheidenheit – Prestigegewächse à la Dom Pérignon fehlen auf der Karte – führen zu Stammgästen, die öfter kommen und das Doppelkonzept ausnutzen. Also auch mal am Mittwoch auf ein Glas Weißburgunder von Judith Beck zu 7 Euro, dann am Samstag zum Menü (140 Euro) samt dazu passender Weinbegleitung (80 Euro). Apropos: Letztere liegt zwar gedruckt vor, kann sich aber individuell ändern. „Wir machen auch einfach mal was auf“, sagt Karl, dem Burgund eine Herzensangelegenheit ist, der mit Händlern zusammenarbeitet, aber auch direkt kauft. Und der innerhalb der Weinbegleitung an Frei- und Samstagen immer Breite und Dramaturgie schafft. Einen trinkreifen Burgunder gibt es praktisch immer, auch das Thema Natural wird aufgegriffen. Ist ja auch einfach, wenn man Toperzeuger wie Werlitsch im Programm hat.
Küchenchef
Benjamin Mitschele, geboren am 09.06.1983 in Augsburg
Stationen:
• Magnolia (Augsburg)
• Scent (Berlin)
• Alte Liebe (Augsburg)
Dessen Ex Vero I wird im Moment zum angebratenen Kalbsbries empfohlen, ein Ragout von Topinambur und Steinpilzen gibt es auch, Kaiserlinge sind mit dabei, Hendlsaft mit brauner Butter wird angegossen. Vermutlich würde die Komposition aus Sauvignon Blanc und Chardonnay nicht so gut zum Essen passen, wenn nicht noch ein paar gesalzene Kumquats fruchtige Akzente im Unterbau lieferten. Rieslaner vom Weingut Odinstal, eine Auslese, gibt es dann zu Zwetschgendatschi nach Art der Alten Liebe. Eine Cremigkeit sei da vorhanden, sagt Peter Karl, welche der Pfälzer Süßwein schön zerschneide.
Wenn es einmal nicht Wein sein soll, süßer oder trockener, dann vielleicht Cidre. Den gibt es ebenso wie das Bier, das aus einer bayerischen Stadt ja nie wegzudenken ist. Man arbeitet mit einer handwerklich aufgestellten Brauerei zusammen und hat auch jenseits der Getränke Ansprüche an Regionalität und Nachhaltigkeit, die weit über den gastronomischen Durchschnitt hinausgehen. Seit dem vergangenen Jahr gehört sogar eine eigene Gärtnerei zum Konzept. Das gehe aber nur, sagt Benjamin Mitschele, weil seine Frau von Beruf Gartenbauingenieurin sei. „Allein würde ich mir das nicht anmaßen.“ Auch die flach angesetzten Hierarchien gehören zur Sustainability-Idee des Restaurants – und Weiterentwicklung ist immer ein Thema. „Ich habe das Kochen angefangen, weil ich so gerne esse“, so Mitschele. „Wir versuchen unsere Urlaube so zu legen, dass wir in tolle Restaurants gehen können.“ Das Restaurant Sosein hat ihn inspiriert, das Septime in Paris. Wer weiß, auf welche Ideen man hier im Jahr 2023 kommt. „Die Alte Liebe ist ein Work-in-progress“, sagt der Chef zum Schluss.

