Sebastian Bordthäuser arbeitet als Sommelier, Moderator, Berater und Autor. Als Kolumnist legt er den Finger in die Wunden der Kulinarik.
Sebastian Bordthäuser arbeitet als Sommelier, Moderator, Berater und Autor. Als Kolumnist legt er den Finger in die Wunden der Kulinarik.

Schmeckt wie Hühnchen

Sebastian Bordthäuser spricht über geschmackliche Allgemeinplätze.

Letztens folgte ich einer fröhlichen Fachsimpelei zweier Kollegen über die feinen Distinktionsmerkmale von Les Grands Echézeaux und Echézeaux du Dessus. Das ist höchste Kalibrierung, dachte ich, und überlegte, ob ich jemals beide Weine nebeneinander getrunken habe, als der Service mit kleinen Häppchen vom Flying Buffet vorbei schlenderte. „Das BBQ Chicken ist Bombe“, empfiehlt einer der Beiden und zeigt auf ein Sandwich mit gezupftem und mariniertem Kräuterseitling. Zugegeben, mit ordentlich rotbraunem, klebrig-süßem BBQ-Lack mariniert, vermitteln sogar meine Shorts gehobenen Grill-Genuss. „Kann ja keiner ahnen, so aufs Glatteis geführt zu werden,“ pflichte ich dem Kollegen bei und gönne mir ein Zweites.

Das arme Huhn musste mal wieder als Vergleich herhalten, diesmal für ein äußerst schmackhaftes Zupfpilz-Sandwich. Spielte dort das Huhn eine Rolle? Nein, war ja auch keins drin. Doch warum bemüßige ich die gebeutelte Kreatur als Referenz für Geschmack? Verkommen zur geschmacksneutralen Trägermasse, wird es verkleistert, frittiert, gebacken, geformt oder mit Knochen zu rosa Paste püriert. „Woman is the nigger of the world“, dichteten John Lennon und Yoko Ono einst. Nicht ganz woke, doch ersetzen wir spaßeshalber Woman durch Chicken, World durch Cuisine und das scheußliche Nigger durch Allgemeinplatz, dann kommen wir dem Status quo sehr nahe: Chicken is the Allgemeinplatz of Cuisine. Nailed it!

Es stellt sich ernsthaft die Frage, warum ein Allgemeinplatz, groß wie der Petersplatz und der des Himmlischen Friedens zusammen, andauernd ohne Aufschrei der Empörung ungestraft als Vergleich bemüht wird. Man muss nur erwähnen, man habe jüngst hervorragenden Frischfrosch aus belgischem Wildfang gegessen und kann die Uhr danach stellen, dass irgendein Klugscheißer sich nicht beherrschen kann, bis „Schmeckt wie Hühnchen“ aus ihm herausbricht. Als müsse er sonst platzen. Das Krokodil in Florida schmeckte natürlich auch nach Hühnchen, das wissen auch die wenigen Mutigen zu berichten, die in Hongkong Schlange probiert haben. Auch sei es keinesfalls eklig, ein Meerschwein in Peru zu versuchen, zart wie Hähnchen seien die nämlich, ebenso wie Leguan und Meeresschildkröte. Was ist mit den Leuten los? Warum schmeckt alles auf einmal nach Huhn? Ist dieses Gebrechen behandelbar? Kollegen, die sonst feinste Nuancen im Terroir schmecken, versagen bei dieser nicht unwesentlichen Differenzierung. Warum spreche ich dem Frosch sein Recht ab, nach Frosch zu schmecken, und führe diesen hüftschwach-hinkenden Vergleich ins Feld? Vergleiche ich privat Sabine mit Stefanie? Peter mit Maik? Da kriegste eine geknallt, und zwar zu Recht!

Wie man es auch dreht: Entweder beleidige ich das Huhn, oder degradiere den Frosch, das Krokodil etc. pp. Was haben die Bresse Bleues, die Mechelner, Marans oder Sulmtaler Hühner mit den industriellen Formfleisch-Verbrechen an der Kulinarik zu tun? Gar nichts.

Bei meinem letzten Japan-Aufenthalt war ich in einem Teriyaki-Restaurant, das allein die Oberkeule des Huhns in sieben unterschiedliche Teile dividierte, denen eine eigenständige Zubereitung zuteilwurde. Insgesamt 60 Cuts vom Huhn kamen dort auf den Grill. Helle Teile, dunkle Teile, festes Fleisch, softes Fleisch sowie die muskulösen Innereien nebst der kniffelig auszulösenden Halspartien: schmeckte alles nach Huhn! War ja auch Welches. Ein Besuch in einem Teriyaki-Restaurant sei also vorm nächsten Vergleichsfall jedem dringlich ans Herz gelegt. Zur Kalibrierung der Geschmackskategorie Huhn und natürlich, um vor der nächsten Vertikalverkostung von Amphibien oder Pilzen einfach safe zu sein.

 

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote