Caffè Mulassano - hier verkehrte einst der Königshofadel.
Caffè Mulassano - hier verkehrte einst der Königshofadel.

Caffè Torino - dem Zauber Turins auf der Spur

Ein Spaziergang durch die historische Altstadt Turins gleicht einer Zeitreise in die Epoche der opulenten Kaffeehauskultur. Von Salons, süßen Verlockungen und der Erfindung des Sandwiches.  

Text: Benjamin Brouër

In Turin, so scheint es, ticken die Uhren anders, ein wenig langsamer und auch leiser als in den großen Touristenmetropolen Mailand, Florenz und Rom. Die Hauptstadt der Region Piemont kommt bescheidener daher und genießt sowohl in Italien als auch bei den europäischen Nachbarn den zweifelhaften Ruf einer mit kulturellen Attraktionen nicht gerade gesegneten Industriestadt – was sie in den Außenbezirken zweifelsohne auch ist. Doch wer sich durch den ersten Eindruck von einem Turin-Besuch abhalten lässt, der verpasst eine prächtige historische Innenstadt, die noch viel von der Zeit zwischen 1861 und 1865 erzählt, als Turin die erste Hauptstadt des vereinigten Königreiches Italien war – und der verpasst ein einmaliges Stück Kaffeegeschichte, dem der Besucher an fast jeder Ecke begegnet.

Caffè – kein anderes Wort prägt die Straßen Turins derart wie der allgegenwärtige Hinweis auf die Kaffeepause. Die ganze Stadt scheint entweder aus der Kaffeepause zu kommen oder auf dem Weg zur nächsten zu sein. Wie anders lässt sich die schiere Masse an Caffès erklären? Mit der historischen und gesellschaftlichen Bedeutung zum Beispiel! Die Turiner Caffès waren seit jeher mehr als der schnelle Stopp für den Koffein-Fix, sie waren und sind noch immer Nachbarschaftstreff, Restaurant, gesellschaftliches Parkett und stilvolle Künstlerstube. Ein Ort, an dem Politik gemacht, heiß diskutiert und heftig verspottet wird. Nicht nur das eint die Turiner Caffès mit den Kaffeehäusern in Wien. Auch der stilvolle Auftritt weist Parallelen auf, auch wenn sich die Wiener Adressen häufig etwas volksnaher geben, während die Caffès zu elegantem Salonambiente neigen.

1895 in Turin gegründet, prägt kein anderer Kaffeeröster die Szene der Stadt so stark wie Lavazza.
1895 in Turin gegründet, prägt kein anderer Kaffeeröster die Szene der Stadt so stark wie Lavazza.
Wenn draußen das Licht brennt, hat das Caffè geöffnet. So war es schon vor Jahrhunderten - die Tradition wird bis heute gepflegt.
Wenn draußen das Licht brennt, hat das Caffè geöffnet. So war es schon vor Jahrhunderten - die Tradition wird bis heute gepflegt.

Die Eleganz sieht man ihnen meist schon von außen an. Edle Holzverkleidungen und üppige Schaufensterauslagen mit dem Hang zur Überdekorierung weisen den Weg über den (häufig roten) Willkommensteppich ins Innere. Die Fassaden fügen sich harmonisch ins Bild der gepflegten Innenstadt ein. Bei so viel Atmosphäre lässt man sich gerne nieder – oder bleibt direkt am Tresen stehen. Turin ist die Stadt des „Coffee to stay“, die Auswüchse der To-go-Kultur samt massenhafter Wegwerfbecher zeigen sich hier weniger deutlich als anderswo.

Opulenz im Salon der Stadt

Beginnen wir mit der Reise durch die historischen Caffès dort, wo Turin am prachtvollsten und opulentesten ist, an der Piazza San Carlo, dem „Salon der Stadt“. Dieser Platz mitten im Herzen der Altstadt teilt die Via Roma in oberen und unteren Teil. Ideal also, um in einem der zahlreichen Caffès einen Shopping-Stopp einzulegen. Zum Beispiel im „Caffè San Carlo“, einer der ältesten und prachtvollsten Adressen ganz Turins. 1822 als „Caffè Piazza d’ Armi“ eröffnet, galt es schnell als einer der angesagtesten Treffpunkte für Intellektuelle und Anhänger des Risorgimento, des Unabhängigkeitskampfes Italiens. Der subversive Ruf sollte dem Caffè erhalten bleiben und weiterhin Dichter und Denker anziehen. Das „San Carlo“ gilt zudem als die erste europäische Kaffeeadresse, die ihren Gästen den Komfort einer gasbetriebenen Beleuchtung angedeihen ließ.

Eingang zum "Caffè Torino“: Die Hoden des Stiers auf dem Gehweg mit den Füßen zu berühren, bringt Glück. So erzählen es die Turiner.
Eingang zum "Caffè Torino“: Die Hoden des Stiers auf dem Gehweg mit den Füßen zu berühren, bringt Glück. So erzählen es die Turiner.
Das "Caffè Torino" wurde im Stile eines Pariser Cafés aus dem 19. Jahrhundert errichtet.
Das "Caffè Torino" wurde im Stile eines Pariser Cafés aus dem 19. Jahrhundert errichtet.

Nur wenige Schritte entfernt, ebenfalls an der zentralen Piazza San Carlo gelegen, empfängt das „Caffè Torino“ seit 1903 eine bunte Gästeschar aus Hollywoodgrößen wie James Stewart und Brigitte Bardot, italienischen Dichter, Künstlern und Politikern – und natürlich ganz normalen Turinern. Denn dem oftmals exklusiven, kultivierten Ambiente zum Trotz – die Caffès sind keinesfalls eine elitäre Angelegenheit. Das „Caffè Torino“, im Stile eines Pariser Cafés aus dem 19. Jahrhundert errichtet, vereint die für Turin so typische Mischung aus Café, Restaurant, Gelateria und Konditorei (Pasticceria). An den ausladenden, antiken Glastresen zu beiden Seiten der Eingangshalle kann man sich minutenlang die Nase platt drücken und hat immer noch nicht genug von der Vielfalt an Gebäck und Pralinen, darunter hausgemachte Gianduiotto, die weltbekannten Nougatpralinen in Form eines umgekehrten Bootes, quasi das Schokoladen-Wahrzeichen Turins.

„Stratta“, the place to go für alle Fans von süßen Kleinigkeiten.
„Stratta“, the place to go für alle Fans von süßen Kleinigkeiten.
Schokolade gilt als die große Liebe der Turiner - neben dem Kaffee, versteht sich.
Schokolade gilt als die große Liebe der Turiner - neben dem Kaffee, versteht sich.

Kaffee und Schokolade verschmelzen im Bicerin

Wer es gern klassisch mag, ist nach einem Spurt über die Piazza San Carlo bei der Süßigkeiten-Adresse schlechthin angelangt: Seit 1836 gibt „Stratta“ den Ton an, wenn es um Bonbons in unzähligen Farben, Fondants, Marrons Glacés oder verschiedenste Schokoladensorten geht. Zeit für ein flüssiges Dessert, den ikonischen Kaffeedrink Turins: Im Bicerin verschmelzen Kaffee und Schokolade – die beiden großen Traditionen der Stadt. Auch wenn Espresso und Cappuccino in den Caffès allgegenwärtig sind, als ganz eigene Kaffeespezialität Turins gilt der Bicerin, die Mischung aus Espresso, flüssiger Schokolade (zu gleichen Teilen) und einer Sahnehaube. Eine weitere passende Adresse für den stilechten Genuss: das „Caffé Al Bicerin“ aus dem Jahr 1763. Hier soll die warme Kalorienbombe erfunden worden sein. Das holzvertäfelte, kleine Caffè samt Tresen und ein paar Marmortischchen rühmt sich, die einzige Adresse Turins zu sein, die seitdem ununterbrochen den Bicerin im Angebot hat – und ihn nach Originalrezept aus dem frühen 19. Jahrhundert zubereitet.

Als Kaffeespezialität Turins gilt der Bicerin, die Mischung aus Espresso, flüssiger Schokolade und einer Sahnehaube.
Als Kaffeespezialität Turins gilt der Bicerin, die Mischung aus Espresso, flüssiger Schokolade und einer Sahnehaube.

Wo Luigi Lavazza die Kaffeeblends erfand

Als ebenso schillernde Adresse ist die Via San Tommaso 10 in die Kaffeegeschichte eingegangen. 1895 begann ein gewisser Luigi Lavazza damit, in seiner kleinen Drogerie Kaffee zu verkaufen, der rasch unter den Begüterten Turins an Popularität gewann. Auf der Suche nach etwas Besonderem für seine anspruchsvolle Klientel kam er auf die Idee, eigene Kaffeemischungen aus verschiedenen Bohnensorten zu mischen. Luigi Lavazza war somit der erste Italiener, der Kaffeeblends kreierte. 1995, 100 Jahre nach den Anfängen in der kleinen Drogerie, kaufte das Unternehmen das Anwesen zurück und eröffnete in den Räumlichkeiten das „San Tommaso 10“ – ein Mischkonzept aus erstklassigem Restaurant und Caffè, in dem verschiedene Lavazza-Blends und Spezialitäten aus dem Lavazza Training Centre gekostet werden können. Wenn es denn wieder seine Türen öffnet, denn aktuell wird umfangreich umgebaut.

Das „Caffé Al Bicerin“, die Geburtsstätte der ikonischen Kaffeespezialität.
Das „Caffé Al Bicerin“, die Geburtsstätte der ikonischen Kaffeespezialität.
„Caffè Mulassano“: 1925 gab es hier den ersten Toaster aus den USA zu bewundern.
„Caffè Mulassano“: 1925 gab es hier den ersten Toaster aus den USA zu bewundern.
Seit 1836 gibt „Stratta“ den Ton an, wenn es um Bonbons in unzähligen Farben, Fondants, Marrons Glacés oder verschiedenste Schokoladensorten geht.
Seit 1836 gibt „Stratta“ den Ton an, wenn es um Bonbons in unzähligen Farben, Fondants, Marrons Glacés oder verschiedenste Schokoladensorten geht.

Die Wege in Turins Altstadt sind kurz, und dank der rechtwinkligen Stadtstruktur fällt die Orientierung leicht. So sind es nur ein paar Schritte von der Via San Tommaso zur Piazza Castello, neben der Piazza San Carlo der zweite wichtige Platz Turins. Unter den Arkaden, die den Platz säumen, verbergen sich zwei weitere historische Caffès, die unbedingt einen Besuch lohnen. Das „Baratti & Milano“, am Eingang zur eleganten, glasüberdachten Galleria Subalpina gelegen, gilt seit der Eröffnung im Jahr 1875 als eine der stilvollsten Adressen und vereint alles, was die Turiner Caffès so unverwechselbar macht: Grand-Caffè-Ambiente in Perfektion, höchste Kaffeequalität und ein gesittetes, anspruchsvolles Publikum. Besonders beliebt sind hier die dickflüssigen heißen Schokoladen (cioccolata calda), die schnell mal eine ganze Mahlzeit ersetzen können und auch zum Anrühren für zu Hause angeboten werden.

Einen Steinwurf entfernt liegt schließlich das „Caffè Mulassano“, in dem einst der Königshofadel verkehrte. Gemeinsam mit den Künstlern des nahe gelegenen Teatro Regio ließen sie sich zwischen prachtvollen Spiegeln und aufwändigen Holztäfelungen an Marmortischen nieder und genossen einen Espresso – einen der besten der Stadt – oder einen Bicerin. Neben dem gepflegten Auftreten und dem handwerklichen Geschick der Baristi trug ein weiteres Detail zur großen Beliebtheit des „Caffè Mulassano“ bei. 1925 importierte die damalige Besitzerin des Caffès den ersten Toaster aus den USA und weckte bei den Turinern in der Folge die Begeisterung für getoastetes Sandwich. Mit gut 30 verschiedenen Variationen feiert das „Caffè Mulassano“ diese kulinarische Errungenschaft noch heute höchst erfolgreich.

fizzz 04/2024

Themen der Ausgabe

Juliane Winkler, Berlin

Juliane Winkler, die Restaurantleiterin des „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin liebt ihren Beruf. Und setzt sich mit
#proudtokellner dafür ein, dass er mehr Wertschätzung erhält.

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Die Aperitif-Kultur ist auf dem Vormarsch – wir zeigen brandaktuelle Gastro-Beispiele.

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Der neue Hamburger Food-Markt setzt Maßstäbe − auch bei der Zusammenarbeit der Betreiber.