Ohrenbetäubend

Als ich den Laden betrete, wird mir sofort klar, dass ich einen großen Fehler mache. Man geht am Sonntagvormittag einfach nicht in Cafés. Die Bude ist rappelvoll mit Kinderwägen, Müttern, schreienden und tobenden Kindern und genervten Vätern hinter der Süddeutschen, die sich insgeheim fragen, ob man am Sonntag um 11:20 Uhr eigentlich schon Bier bestellen dürfte. Die Bedienung (die eigentlich Schauspiel studiert) ist völlig überfordert, denn es gab weltweit noch keine Belege für volle Cafés am Sonntagmorgen, anhand derer man den Schichtplan hätte entsprechend gestalten können. Das Schlimmste an diesem Chaos ist jedoch die Musik. Der Büfettier steht mit augenscheinlichem Rest-alkohol hinter der Theke und dreht seine Musik noch einen Ticken lauter, um das ohnehin schon ohrenbetäubende Gezeter aus Kindergeschrei, Geschwätz und Porzellangeklapper zu übertönen. Ein räudiges Konzept, denn danach schreit der gesamte Laden noch lauter gegen den Lärm an.

Eine Extremsituation, zugegeben, die in diesem Moment allerdings die glasklare Frage aufwirft: Braucht eine Gastronomie zwingend Musik? Lassen wir Cafés, Kneipen und Rock’n-Roll-Kaschemmen außen vor und konzentrieren uns auf Restaurants. Irgendwie scheint Moses es in Marmor gemeißelt zu haben, dass in Restaurants Musik zu laufen habe. Als sei ein Restaurant eine Juke Box. Vor dem Service werden schnell die Kerzen angezündet und die Musik angestellt, um den Gast in Stimmung zu versetzen. Die Frage ist nur: In welche? Wer legt das fest? Hier liegt der Hund begraben: irgendjemand. Es gibt kein Konzept. Es wird Musik abgespielt, um Geräuschkulisse zu haben. Ich erinnere mich zwangsläufig an Abende, an denen dieselbe CD oder Playlist wieder und wieder lief. Ave Maria, um den Weihen der hohen Kulinarik zur weiteren Festlichkeit zu verhelfen. Ein Albtraum.

Es gibt wenige Restaurantbesuche, bei denen ich mich an die Musik erinnere. Und wenn, dann nur, weil ich mich geärgert habe über Lautstärke oder Auswahl. Oder beides. Der jüngst verstorbene Mark Hollis sagte einst in einem Interview: „Bevor Du zwei Noten spielst, lerne, wie man eine Note spielt. Und spiele auch die nicht ohne einen triftigen Grund.“ Dieses Statement ist übertragbar auf fast jede Lebenslage.

Bevor ich mir also überlege, welche Musik ich in meinem Restaurant spiele, muss ich mir die Frage stellen, ob ich dort überhaupt Musik brauche. Und zu welchem Zweck. Welches Konzept passt zu meinem Lokal? Spiele ich Musik, muss sie Mehrwert bieten, zumindest mehr als bloße Geräuschkulisse. Das kann jedoch schnell in die Folklore-Hölle führen, wenn einem im besten Italiener der Stadt bereits beim Eintritt „O Sole mio“ entgegenplärrt. Musik läuft viel zu oft beiläufig, weil alle etwas anderes zu tun haben. So bleibt sie Kulisse, laut wie startende Düsenflugzeuge. Man trinkt im Restaurant doch auch gute Weine, statt wahllos für alkoholisches Grundrauschen zu sorgen.

Das Thema Musik ist neben Beleuchtungsfragen oft ein großes Manko. In urbanen To-Go-Gastronomien ist die Beleuchtung oft besonders hell, um es ungemütlich zu haben und Platz zu schaffen für neue Gäste. Ich habe den Eindruck, dass die Wahl der Musik manchmal den gleichen Effekt hat. Licht und insbesondere Musik sind Steuerungselemente mit nicht zu unterschätzender Reichweite. Immer noch wird sie leider nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner ausgewählt. Die Stimmung im Restaurant ist jedoch jeden Abend unterschiedlich, und so bieten Playlists auch nur bedingt Abhilfe. Ich verlasse das Café Richtung Sofa und werfe beim Gehen einen letzten Blick auf den Buffetier, der neben der 267. Latte Macchiato die ersten Biere raushaut und die Musik noch einen Ticken lauter dreht.

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote