Der schmale Grat

Nostalgisch blickt das innere Auge zurück auf die glorreichen Tage des liebenswerten Diktators Monsieur André Thomann im Restaurant Dieter Müller. Par Excellence choreographierte der Maître seine Service-Brigade, die aus sage und schreibe zwölf Festangestellten bestand. Von derer Synchronität bei jedweder Inszenierung hätte sich selbst das russische Staatsballett ein paar Scheiben abschneiden können. Nur die Sommeliers tanzten ab und an aus der Reihe. Statuten, wie in Perfektion einstudierte zeitgleiche Abläufe, wortlose Kommunikation vom Premier Chef de Rang bis hin zum Porteur machen jene Art von Service zeitlos zu etwas Besonderem und definitiv feiernswert. All jenen, die das bis heute noch bewerkstelligen und auch finanziell tragen, gebührt großes Lob.

Werden nun allerdings bei gleichbleibendem Aufwand im Vierteljahrestakt Stellen gestrichen unter dem Motto: „Es geht ja auch so“, muss man von majestätischem wohl oder übel auf, nennen wir es, entspannten Service umstellen. Meistens liegt in eben jenem Unterfangen der Hund begraben. Es scheint eine der größten kognitiven und praktischen Herausforderungen der modernen gehobenen Gastronomie zu sein. Kaum ein Grat ist schmaler, als jener zwischen professionellem, doch lässigem Service und schlichtweg desolatem Service.

Eine Flasche Wein gehört präsentiert. Selbst, wenn sie im Unverstand gesoffen wird, so viel Wertschätzung hat sie verdient. Schaut nicht mich böse an, wenn ich mir das Wasser vom Guéridon greife, sondern hinterfragt, ob es fortan nicht doch sinnvoller wäre, es auf den Tisch zu stellen, weil ihr eben nur noch fünf und keine zwölf Mitarbeiter mehr seid und ihr einfach mit Nachschenken nicht hinterher kommt. Es löst viel mehr Irritation beim Gast aus, wenn der Chef de Rang dreieinhalb Minuten, zwar lächelnd doch innerlich panisch, vor dem Tisch stillsteht und Hilfe suchend eine weitere Person herbei guckt, um zwei Teller auszuheben, als wenn er es einfach freudig alleine macht und dabei den ganzen Stolz seiner großartigen Zunft verkörpert. Wenn das mit dem Nachdecken bei drei von neun Gängen nicht klappt, dann stellt mir das Besteck auf den Tisch oder baut mir eine Schublade ein. Ich nehm‘ mir dann schon, was ich brauche. Es ist nicht eure Schuld, dass ihr „heute“ „wieder mal“ weniger seid, doch es ist eure Verpflichtung damit fachgerecht umzugehen. Dafür sind wir schließlich Profis. Und erspart euch bitte am Gästetisch die Leier, wie schwer wir es doch haben. Dafür kommt mit aller Gewissheit kein Gast ins Restaurant.
Ja, es ist sehr schwer aus alten Rastern auszubrechen, doch wenn alle Stricke reißen, kann man sich selbst an den noch so Bewährtesten nicht mehr festhalten.
 

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote