Ausgabe 25/2016

Wozu noch Menschen?

WEINWIRTSCHAFT Ausgabe 25/2016

Die schöne neue Welt, so wie sie sich die Apostel der digitalen Revolution ausmalen, braucht keine Menschen mehr. Auch im Handel soll in Zukunft vieles automatisch funktionieren. Regale mit Weinflaschen füllen sich wie von selbst. Roboter auf jeder Ebene übernehmen das, was einst in graue Kittel gewandete, stets gestresste und weder für Kunden noch Vorgesetzte erreichbare menschliche Helfer und ihre Hände verrichteten, die Ware sortierten, Kartons stapelten, Preise anklebten und schließlich an der Kasse das Bargeld kassierten.

Das alles soll der Vergangenheit angehören, träumen die großen Handelsketten unserer Zeit, seit ein 167 Quadratmeter großer Convenience-Store von Amazon im amerikanischen Seattle an der Westküste der USA die Branche aufschreckte.

Woran die Großkonzerne schon seit Jahrzehnten basteln – den kassenlosen Supermarkt – setzt der Technologiekonzern im Handumdrehen um. Jetzt sind alle neugierig auf die von Amazon verwendete Technik, welche die Menschen im Handel mehr und mehr überflüssig macht.

Sie sagen, »warum soll intelligente Technik nicht eingesetzt werden, um einfache Hilfsarbeiten zu übernehmen? Wieso sollen Menschen ihre wertvolle Lebenszeit verschwenden, wo sie doch zu Höherem geboren sind?« Frage ich: »Werden wenigstens noch Menschen in der Beratung gebraucht oder auch dort ersetzt?« Sagen die Experten: »…nicht so viele wie heute«. Beratung das machen die Big-Data-Konzerne und übernehmen ein paar Apps. Die kennen Ihre Wünsche dank ausgeklügelter Analyse Ihres Inneren besser als Sie selbst und wissen, noch bevor sie es in ihr elektronisches Endgerät gehackt haben, was Sie wollen und wonach Ihnen gelüstet. Ein Schlaraffenland soll sich eröffnen, schenken wir den Apologeten der neuen Zeit Glauben.

Ach ja, hat Beratung überhaupt noch einen Stellenwert? Der Handelskonzern Real vollzieht gerade eine Kehrtwende und probiert ein neues Format. Fast hundert neue Mitarbeiter wurden im Pilotmarkt in Krefeld für Service und Beratung zusätzlich eingestellt, die den Kunden jetzt Frische und Delikatessen samt exklusivem Weinsortiment offerieren sollen. Mal sehen, wie das bei Real in der Praxis funktioniert. Einstweilen geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Von der Abschaffung der Kassenzone träumen alle Händler. Menschen sind dort nur noch ein Kostenfaktor.

Bei Amazon in Seattle geht der Kunden durch den Laden, lädt auf was er braucht oder von seinem vernetzen Smarthome diktiert bekommt, verlässt den Laden, und vermutlich im selben Augenblick wird der Betrag von seinem Konto abgebucht. Kein Geldschein und keine Münze werden mehr gewechselt. Staat und Finanzverwaltung dürften jubilieren, denn jetzt ist die Überwachung total. Kein Krümel geht ihnen mehr durch die Lappen.

Mit jedem Schritt in diese Richtung verlieren wir an Autonomie. Die Zeit ist nicht mehr fern, und am Monatsanfang liefert man sein Salär bei der Finanzverwaltung ab und fristet sein Dasein auf Durchschnittsniveau, das die Algorithmen der Verhaltensforschung und der Staat uns zubilligen. Bis am Ende die mündigen Menschen abgeschafft werden. Ganz im Ernst: Wozu braucht es noch den Menschen in dieser schönen, neuen Welt?

Technik und Technologien sollen, ja, müssen das Leben erleichtern, und niemand sollte seine Zeit auf Erden mit stumpfsinnigen Arbeiten vergeuden. Aber irgendwann wird der Mensch physisch, isst und trinkt, lebt und braucht seinen Platz, braucht menschliche Nähe und Wärme, das Gespräch und die Freundlichkeit des Gegenübers. Es gibt heute gerade in den großen Städten mehr einsame Menschen als je zuvor, und nichts ist verstörender als in der Masse allein zu sein. Ich bin für die Einführung eines Menschlichkeitsfaktors bei jeder neuen Technologie. Vielleicht hilft das, den Menschen nicht zu vergessen. 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine frohe Weihnachtszeit und etwas Besinnnung und Ruhe in den letzten Tagen des Jahres.

Hermann Pilz
Chefredakteur WEINWIRTSCHAFT
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