No limits!

Gypsy-Brauer, Gastronom, Grenzenausloter – bei Mikkel Borg Bjergsø und seiner Marke Mikkeller geht alles. Außer Stillstand.

Mikkel Borg Bjergsø, Macher der dänischen Kultbrauerei Mikkeller, kennt keine Grenzen / Credits: Rasmus Malmstrøm

Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Die ganze Welt trinkt weichgespültes Lager, und ein Däne braut ein Bier mit 1.000 Bittereinheiten. Das ist fünfzigmal so bitter wie ein übliches Bier, rein rechnerisch, und fühlt sich auf der Zunge an wie Rasierklinge, gefolgt von reinem Bitterextrakt. Auf dem Etikett des „1000 IBU“: ein gezeichneter Bankräuber hinter Gittern. Einladend geht anders. Oder das „Black“, noch so’n Ding. Ein Imperial Stout, so stark, schwarz und bitter wie möglich. Wer kommt denn auf solche Ideen?

Ein netter, höflicher Mann namens Mikkel Borg Bjergsø aus Kopenhagen. Und der hat noch viel mehr Ideen. Bislang ungefähr 600. So genau weiß er das selbst nicht mehr. „Am besten mal bei Ratebeer.com nachschauen“, rät er. Da findet man Porter, eingebraut mit Popcorn, glutenfreie Biere, in Grand-Marnier-Fässern gereifte Ales, Biere vergoren mit japanischen Pflaumen, aber auch weniger Extremes wie Berliner Weiße, Pils, Lager, und, und, und. Bei Mikkeller auf dem Laufenden zu bleiben, ist harte Arbeit, so hoch ist die Drehzahl. Der Clou an der Sache: Der hyperkreative Däne hat gar keine Brauerei. Wie das? Mikkel Borg Bjergsø ist Gypsy Brewer, vielleicht der Gypsy Brewer schlechthin. Je nach Anlass, Kooperationspartner oder Kapazität sucht er sich eine Brauerei, auf deren Anlage er seine Biere braut. Oder besser: brauen lässt. Denn viel lieber, als selber am Kessel zu stehen, erfindet er neue Rezepte. Den Brau-Job überlässt er in der Regel dann anderen. Meist hat Dirk Naudts die Ehre, denn dessen Proef Brouwerij in Belgien ist so etwas wie Mikkels Hausbrauerei.

Gypsy aus Überzeugung

Mikkels „Zigeunerleben“ ist keineswegs nur aus der Not geboren. Klar, damals vor mehr als zehn Jahren, als er noch Mathe- und Physiklehrer war und in seiner Freizeit mit seinem Kumpel Kristian Keller in bester Homebrewing-Manier die ersten Bierversuche startete, war an eine eigene Brauerei noch nicht zu denken. Auch nicht, als die beiden mit einem Oatmeal-Stout samt Kaffee namens „Beer Geek Breakfast“ bei der Bewertungsplattform Ratebeer groß abräumten und sich die ersten Distributeure für die Jungs zu interessieren begannen. Längst aber ist aus den Küchenexperimenten ein internationales Business geworden. Mikkeller im Jahr 2015 heißt: acht Festangestellte im Hauptquartier in Kopenhagen, Export der Biere in 40 Länder, eigene Bars auf drei Kontinenten, mit der Copenhagen Beer Celebration ein eigenes Bier-Festival... Eine eigene Stammbrauerei, wo all seine Biere gebraut werden, könnte er sich mittlerweile wohl leisten. Will er aber gar nicht. „Als Gypsy-Brauer musst du dich um den ganzen langweiligen Kram wie Reinigung und Instandhaltung der Brauerei nicht kümmern. Du kommst, braust dein Bier und haust wieder ab.“

Gypsy-Brauer, Gastronom, Grenzenausloter – bei Mikkel Borg Bjergsø und seiner Marke Mikkeller geht alles. Außer Stillstand. / Credits: Rasmus MalmstrømDie Gypsy-Nummer erfordere zwar eine vorausblickende Planung und sei logistisch auch nicht ganz einfach, die gewonnene Freiheit mache diese Nachteile aber locker wett, so Mikkel. Abgesehen davon, dass er sich keine Sorgen um hohe Kreditraten machen müsse, die ihn womöglich in seiner Kreativität beschneiden würden. Kompromisse eingehen? „Mainstreamiger“ brauen, um wirtschaftlich erfolgreicher zu sein? No way! „Als Gypsy konnte ich von Beginn an genau die Biere brauen, die mir vorschwebten. Und wenn es nicht geklappt hätte, wäre ich eben wieder zurück an die Schule gegangen.“

Es hat aber geklappt, und einen Teil seines Erfolges führt der 39-Jährige auf seinen ungewöhnlichen Werdegang zurück. Der für Craftbrauer wiederum gar nicht so ungewöhnlich ist. Denn wie einige seiner Kollegen ist auch er kompletter Autodidakt, hat das Brauen mehr durch „trial and error“ als durch ein Studium gelernt. Gut so, meint er: „Wenn ich das Brauen klassisch gelernt hätte, wäre ich heute sicher ein anderer. Hätte viel mehr Beschränkungen im Kopf: einen gewissen Anteil an Spezialmalz nicht zu überschreiten, ebenso wie einen maximalen Bitterwert, bestimmte Sorten nur bei fest definierten Temperaturen zu vergären und so weiter.“ Auf solche Regeln pfeift er: „Das ist ja genau das, was ich an Bier so liebe: Es gibt keine Limits!“ Autodidakt zu sein – für Mikkel Borg Bjergsø die beste Voraussetzung, ein guter Craftbrauer zu werden.

Kontrolle? Langweilig!

Was andere Brauer als Grundbedingung für ihre Arbeit sehen, nämlich die kompletten Prozesse kontrollieren zu können, schreckt ihn eher ab. Seine Begeisterung für spontanvergorene Sauerbiere spricht Bände: „Das Spannende an diesen Bieren ist ihre Unberechenbarkeit. Du kannst das Ergebnis kaum kontrollieren und bekommst, was die Natur dir schenkt.“ Testen, warten, probieren, ändern, verwerfen – und wieder von vorn anfangen. Genau sein Ding. Umso zufriedener ist er, wenn nach all den Improvisationen am Ende etwas herauskommt wie das „Spontan Basil“, ein spontanvergorenes Bier mit Basilikum, das er kürzlich gemeinsam mit den belgischen Traditionsbrauern von Lindeman’s ausgetüftelt hat. „So ziemlich das beste Bier, das ich dieses Jahr getrunken habe“, klopft er sich ausnahmsweise mal selbst auf die Schulter.

Ich-Bezogenheit liegt ihm ansonsten fern. Wann immer er Zeit findet, reist er um die Welt, die Antennen stets auf Empfang, in froher Erwartung eines frischen Impulses, der ihn zu einer neuen Kreation animieren könnte. „Reisen, Gespräche mit Köchen, ungewöhnliche Sachen probieren – die Einflüsse können von überall her kommen“, sagt Mikkel, der im Übrigen begeistert ist von der deutschen Bierkultur. „Ich bewundere zum Beispiel Schlüssel. Jedes Mal, wenn ich in Düsseldorf bin und dort Altbier trinke, denke ich, das ist das verdammt nochmal beste Bier der Welt.“ Fasziniert ist er ebenso von den US-Jungs von Three Floyds, mit denen er kürzlich den Brewpub „Warpigs“ in Kopenhagen eröffnete (siehe „Mikkeller und die Gastronomie“). „Es sind nicht nur die Biere, die mich begeistern, sondern vielmehr die gesamte Welt, die sie um sich herum geschaffen haben, und das in der Regel mit unbezahltem Marketing.“ Die Biere in Heavy-Metal-Optik mit Namen wie „Arctic Panzer Wolf“ oder „Zombie Dust“ sind extrem begehrt. Ihren „Dark Lord“ verkaufen sie an nur einem Tag im April direkt bei der Brauerei. Laut Mikkel schlägt das Event jedes Rock-Festival. „Was Three Floyds geschaffen hat, ist wirklich einzigartig. Kein Wunder, dass sie die größten Hardcore-Fans in der Bierwelt haben.“

Die Mikkeller-Ästhetik

Verglichen damit ist der Auftritt Mikkellers fast schon leise – Parallelen gibt es dennoch. Auch dem Dänen ist es gelungen, eine eigene Welt zu kreieren, maßgeblich getragen von einem ganz eigenen Design. Um das kümmert sich der US-Designer Keith Shore, der nicht nur die Bars, sondern auch die einzigartigen, gezeichneten Flaschenetiketten gestaltet und so eine wiedererkennbare Corporate Identity geprägt hat. Für Mikkel ein absoluter Glücksfall: „Keith hat einen ganz eigenen Stil. Er traut sich, Etiketten zu entwerfen, die als Bieretiketten erst einmal keinen Sinn ergeben. Aber genau dieser spielerische, ästhetische Ansatz mit skandinavischem Einfluss und den besonderen Figuren gefällt mir.“ Und so lässt er Keith absolute Freiheit bei der Arbeit. „Ich sage ihm nur, was das für ein Bier wird und wie es schmecken soll, und schon macht er sich an die Arbeit.“ In 19 von 20 Fällen ist Mikkel mit dem Entwurf auf Anhieb happy. Keith Shore ist übrigens seit neuestem fest angestellt, schließlich gibt es eine Menge zu tun. Neue Biere, neue Bars, neue Flausen im Kopf. Wie heißt es so schön in „Mikkeller’s Vision“, dem Mini-Manifest auf der Website: „Was wir nicht können: ... uns ausruhen. Wir beschreiten immer neue Wege und arbeiten stets an neuen Ideen, am nächsten Projekt. Da ist es für die Leute manchmal ganz schön schwierig, am Ball zu bleiben…“