Ausgabe 21/2019

Keine Einheit in Sicht?
ddw21/2019

30 Jahre nach der Wende stehen weniger Mauern im
Land, dafür haben sich Gräben aufgetan
Im November wird in Berlin die offizielle Feier zum
30. Jahrestag des Mauerfalls steigen. Dank dieses Ereignisses
in den späten 80ern konnten viele von uns
schon vergangene Woche ein extra langes Feier-Brückentag-
Wochenende genießen. Doch ehrlich: Wer
von Ihnen hat am Nationalfeiertag tatsächlich an die Deutsche
Einheit gedacht und was ging Ihnen dabei durch den
Kopf? Aktueller denn je ist auch die Frage: Was ist nur aus
der deutschen Einheit bzw. aus der Einigkeit der Deutschen
geworden?
Im Jahr 30 nach dem Mauerfall scheint Deutschland,
scheint unsere Gesellschaft weniger vereint denn je. Überall
tun sich Gräben auf. Nicht nur zwischen dem landstrichweise
entvölkerten Osten und dem Westen, dessen blühende
Industrielandschaften schon rosigeren Zeiten entgegen sahen.
Auch zwischen Arm und Reich, Alt und Jung, Rechts
und Links.
Unsere Gesellschaft wirkt in diesen Tagen gespaltener
denn je. Sie teilt sich in Klimawandelleugner und Klimaprotestler.
Man fährt entweder SUV und wird dazu verdammt,
in der Klimahölle zu schmoren, oder man
nutzt Unterrichts-Freitage zum Protest
und wird als »geisteskrank« diffamiert.
Eine sachliche Auseinandersetzung sieht
anders aus. Dieses Schwarz-Weiß-Malen
spaltet unsere Gesellschaft und bringt uns
nicht weiter bei der Lösung der drängenden
Probleme unserer Zeit. Eine geeinte
Nation stelle ich mir anders vor: Nicht als
homogene Masse im Gleichschritt — die hat
schließlich erst zur Teilung unseres Landes geführt — sondern
als gelebtes Miteinander unterschiedlicher Individuen,
die im Grundsatz ähnliche Ziele verfolgen. Natürlich müssen
wir nicht immer einer Meinung sein und natürlich dürfen,
nein sollen, wir uns auch aneinander reiben. Aber ist des
denn wirklich nötig, dass unterschiedliche Interessengruppen
einen möglichst unveränderbaren Standpunkt beziehen
und diesen, wenn nötig bis aufs Blut und ohne Rücksicht auf
Verluste, verteidigen.
Beim Stichwort funktionierende Gesellschaft muss ich
spontan an Ying und Yang denken. Ich habe zwar keine Ahnung
von Daoismus, aber ich weiß, dass Ying und Yang für
entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene duale
Prinzipien stehen, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen.
Ein Blick ins Internet verrät, dass das Verhältnis von
Yin und Yang nicht mit dem Gegensatz von Gut und Böse zu
vergleichen ist, sondern vielmehr ein relativer Gegensatz ist,
der zwischen zwei rivalisierenden, doch zusammengehörigen
(bitte merken: zusammengehörig!) Gruppen besteht, die
komplementär sind und wechselweise in den Vordergrund
treten. Das passt doch eigentlich ganz gut als mögliches Gesellschaftsmodell.
Zumal wenn man davon ausgeht, dass
dieses Wechselspiel der widerstreitenden Kräfte zu einer
gewissen Ausgewogenheit führt.
Ausgewogenheit ist etwas, das wir auch in der Diskussion,
über Landwirtschaft und Weinbau dringend gebrauchen
können. Denn so wünschens- und erstrebenswert der nachhaltige
Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen ist, so
unabänderlich ist auch die Tatsache, dass Milliarden von
Menschen ernährt werden wollen. Und der einzige Weg,
diese im wahrsten Wortsinne »wachsende« Herausforderung
zu meistern, liegt nun einmal in einer modernen Landwirtschaft.
Wie diese auszugestalten ist, darüber kann diskutiert
werden, vor allem aber muss weiter geforscht und entwickelt
werden.
Denn auch ohne jegliche wissenschaftliche
Erkenntnis ist längst klar: Nicht jeder
kann künftig einen vergleichbar hohen
Verbrauch an Hühnchenbrust haben wie
die Menschen im vereinten Deutschland
— uns selbst eingeschlossen. Wenn wir
diese Einsicht erst einmal
verdaut haben und merken,
dass wir zwar auf
unterschiedlichen Decks, aber zumindest
im gleichen Boot sitzen, führt das
vielleicht zu etwas mehr Verständnis für
einander. Unserer Diskussionskultur täte
das sicher gut. F