Ausgabe 26/2016

Herausfordernd

WEINWIRTSCHAFT Ausgabe 26/2016

Das neue Jahr beginnt, wie das alte endete. Diese Weisheit ist wie so viele falsch und richtig zugleich. Falsch ist: Die Zeit bleibt nicht stehen und Geschichte wiederholt sich nicht. Richtig ist: Was bleibt, sind die Probleme, die sich von einem ins andere Jahr fortpflanzen. Das ist in Politik und Gesellschaft nicht anders als in der Weinbranche.

Europa oder konkreter der europäische Weinbau schleppt seit Jahrzehnten seine strukturellen Defizite mit sich. Das Grundübel: Die landwirtschaftliche und weinbauliche Produktion in Europa wurde zu lange unter sozialen Aspekten betrachtet. Produktion und soziale Aspekte müssen jedoch scharf getrennt werden, denn in einem Fall geht es um die Erzeugung von Nahrungs- und Genussmitteln wie Wein und und im anderen um die soziale Situation der von und mit der Landwirtschaft und dem Weinbau lebenden Bevölkerung. Das Primat der Politik hat in diesem Bereich vollkommen versagt, da es alte Strukturen, als noch mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren, zum Maßstab von Produktion und Organisation machte. Doch heute sind weniger als ein Prozent der Bevölkerung direkt in der Landwirtschaft tätig. Soziale Gesichtspunkte müssen da eine ganz andere Rolle spielen.

Dass die strukturellen Defizite im Weinbau besonders groß sind, lässt sich an der Entwicklung der internationalen Weinmärkte ablesen. Die neue Welt gewinnt seit Jahrzehnten mehr Anteile an Rebfläche und Produktion und das alte Europa verliert. Die neue Welt tritt mit ganz anderen Strukturen wettbewerbsfähiger und marktorientierter an. Die Vorhersage ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Überseeländer angesichts ihrer stärker marktorientierten Ausrichtung weiter gewinnen werden. Die Konsum- und Einkaufsgewohnheiten zukünftiger Generationen spielen den Überseeländern dabei in die Hände. Die neuen Konsumenten, ob in den USA, in Europa oder sonst wo auf der Welt, lieben es einfach und wollen sich nicht in die Verästelungen einer bürokratisierten Weinnomenklatur vertiefen. Den Hintergrund liefert die Bildungshistorie der Jungen. In der gesamten westlichen Welt wurde und wird den jetzt nachrückenden Generationen eine fast schon manische Ergebnis- und Erlebnisorientierung anerzogen. Es zählt vor allem der momentane (Lust-)gewinn. »Erleben, erledigen und abhaken« ist das Motto in Bildung und Arbeit der digital zu jeder Zeit mit der Welt vernetzten Jugend. Dazu passt nicht die Kompliziertheit des europäischen Weinrechtssystems als Grundlage eines erfolgsorientierten Marketings. Nur eine Minderheit wird sich in Zukunft noch in das Jägerlatein der Weinbezeichnungen vertiefen. Weine, die unter zertifizierten Bedingungen produziert eine gute Qualität, und ein zuverlässiges Geschmackserlebnis versprechen, die authentisch wirken und positive Emotionen wecken, werden die Gewinner sein. Ansonsten werden sich die Konsumenten Cocktails auf Spirituosenbasis zuwenden, die mehr Berechenbarkeit des Lustgewinns garantieren. Die großen mediterranen Länder sind aufgrund der Marktspaltung in einfache Basis- und Verarbeitungs- sowie höherwertige Herkunftsweine ein Stück weiter als der deutsche Weinbau, der noch immer das Unikum von hundert Prozent undifferenziertem Qualitätswein mit sich herumschleppt. Eine kleine, feine  Weingutsszene kann sich in Deutschland und im übrigen Europa vom Marktgeschehen abkoppeln und darf glücklich in ihrem Biotop existieren. Doch es bleibt eine Minderheit. Die anstehenden Probleme drängen auch in dieses Idyll. Veränderung der Konsumgewohnheiten und die digitale Revolution machen davor nicht halt. Für alle, vom Erzeuger bis zum letzten Glied in der Handelskette, wird die Distributions- und Preispolitik in Gestalt der Preisvergleichbarkeit  zur Existenzfrage. Für die Zukunft gilt: Wer nicht weiß, an welchem Ort, von wem und zu welchem Preis sein Wein verkauft wird, gehört zu den Verlierern. Aber ich glaube, das habe ich schon mal geschrieben. Es geht also doch weiter: Auf ins neue Jahr.

Hermann Pilz
Chefredakteur WEINWIRTSCHAFT
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