Ausgabe 22/2019

Die Spannung steigt
WW 22/19

Die Geschichte ist Legende. Wie alt ist Amazon? Richtig, gerademal 25 Jahre jung. Gegründet wurde das Unternehmen 1994 von Jeff Bezos in einer Garage in Seattle. Erst Bücher, später CDs, heute treibt das Unternehmen den Handel vor sich her. Wie das Kaninchen auf die Schlange, starren alle auf Amazon.
Und der Konzern erfüllt die Erwartungen. Amazon liegt mit einem Börsenwert von zeitweise über einer Billion Dollar an der Spitze der wertvollsten Unternehmen der Welt. Die Aktivitäten oder besser gesagt die Gewinnsparten verteilen sich auf mehrere Säulen. Der Onlinehandel ist nur eine. Die Marktplätze, die Amazon anderen Händlern zur Verfügung stellt, sind eine andere. Wichtigste Stütze des Unternehmens sind die Amazon Web Services, die in Form des Cloud Computing auch den größten Anteil zu den Gewinnen liefern. Amazon ist mit dem Unternehmen Whole Foods selbst stationärer Lebensmittelhändler in den USA. Fünftes Standbein sind gebührenpflichtige Dienste wie Amazon Prime, die inzwischen ebenfalls Milliardenumsätze generieren. Der Konzern ist gut aufgestellt und entwickelt ständig Neues. Die Vorstellung, dass Amazon eine Art Shopping Mall oder ein Online-Händler sei, greift zu kurz. Amazon hat sich zu einer allumfassenden Macht entwickelt. Während Mittelständler und kleine Onlineanbieter durch immer neue Datenschutzgesetze gegängelt und behindert werden, tangieren diese Amazon kaum. Über Bezahlportale und Dienste bis hin zu jedem Klick auf Partnerseiten ist Amazon mit an Bord, kassiert Provisionen und Gebühren und sammelt Daten. Dazu zahlt Amazon kaum Steuern.
Aktuell nimmt das Unternehmen eine der letzten Hürden in seinem Handelsgeschäft. Um niedrigpreisige Produkte wie Lebensmittel oder Drogeriewaren machte der Konzern in der Vergangenheit einen großen Bogen. Die sogenannten 1-Dollar-Produkte waren in der Regel nur gebündelt zu bekommen.
Das soll sich jetzt mit dem Angebot ändern, solche Produkte versandkostenfrei an Prime-Abonnenten zu liefern. Dies bleibt nicht ohne Folgen für den übrigen Handel, auch den mit Wein. Die Branche stellt es vor eine gewaltige Herausforderung. Dazu muss man sich vor Augen führen, was Amazon zu leisten in der Lage ist: Rund 100 Mill. Produkte, die zur Auswahl stehen, können laut Amazon binnen zwei Tagen ausgeliefert werden, etwa 10 Mill. Produkte binnen eines Tages und rund 3 Mill. Produkte sind am Tag der Bestellung lieferbar.
Über wie viele Artikel verfügt ein deutscher Verbrauchermarkt? Üblicherweise sind es zwischen 40.000 bis 50.000. Das Weinsortiment umfasst meist 500 bis 1.000 Artikel. Für Amazon eine Petitesse. Wer bei Amazon den Suchbegriff Primitivo eingibt, bekommt mehr als 2.000 Ergebnisse und Vorschläge angezeigt, davon viele Weine, die innerhalb 24 Stunden lieferbar sind.
Amazon verfügt also über das Sortiment, aber was noch weit wichtiger ist, das Unternehmen weiß, wer die Kunden sind und was diese begehren. Amazon wird damit zu einer wahrhaftigen Bedrohung für den klassischen Lebensmittel- und nicht weniger für den Weinfach- und Spirituosenhandel. Höchste Zeit für alle, die sich bisher noch nicht damit beschäftigt haben, Profil zu gewinnen und ein nicht austauschbares Angebot zu schaffen.
Keinesfalls darf dazu missbräuchliche Werbung mit Rabatten gehören, wie es der Online-Händler Silkes Weinkeller jüngst vorexerzierte. Die Umstellung auf die Winterzeit nutzte der Händler zur Werbung mit einem »für alle Weine« gültigen Angebot: »Nicht vergessen, Uhr umstellen, 20 % sparen«. Vor und nach der Aktion lag der Preis beispielsweise für Tignanello wie bei anderen bei 95 Euro. In der Aktion für 24 Stunden schnellte der Preis auf 115 Euro hoch. Da kann man fröhlich 20 Prozent gewähren. Der Rabatt, eine Verbrauchertäuschung. Auf diese Weise ruiniert man sich und die Branche. Gegen Amazon wird man so nicht ankommen.
Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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