Ausgabe 16/2016

Illusionen

WEINWIRTSCHAFT Ausgabe 16/2016

Wo bin ich? Sieht aus als wäre es eine schick renovierte Filiale eines selbstständigen Einzelhändlers von Edeka oder Rewe. Aber halt, das ist es nicht. Ich lief gerade durch die Eingangsschleuse eines Lidl-Marktes, der in neuem Format im beschaulichen Neustadt eröffnete, nach erstaunlich kurzer Bauphase, an der sich die Bauherrn von Opernhäusern, Bahnhöfen und Flugplätzen ein Beispiel nehmen könnten. 
Auf geschätzte 1.500 qm kommt der Laden, fast doppelt so viele wie bei den alten Filialen, die voll gestopft bis unter die Decke bieder und schmuddelig wirkten. Wie so oft residieren die Discounter in trauter Nachbarschaft. Was Lidl an seinem Standort vorexerziert, lässt Aldi nicht ruhen, und so bringt Konkurrent »A« nur einen Steinwurf entfernt seine Filiale ebenfalls in Schwung und baut um.
Das hat Methode: In zwei bis drei Jahren sollen aus den »alten«, die »neuen« Discounter werden, verkünden die Zentralen in Neckarsulm, Essen oder Mülheim. Die Anstrengungen kommen nicht von ungefähr. Die Discounter sind an Wachstumsgrenzen gestoßen. Aldi und Lidl verbuchten zuletzt, ungewohnt für ihre Verhältnisse, rückläufige Umsätze. Mehr als rund 16.000 Discountläden scheint die Republik offenbar nicht zu (er-)tragen. Schlimmer noch aus den Augen der Discounter: Die Konsumenten wanderten in den letzten Jahren in Scharen ab und sorgten bei den Vollsortimentern von Rewe und Edeka für höhere Umsätze und größere Marktanteile. Die Discounter, allen voran Lidl und Aldi, sahen es mit Sorge und bauen nun mit gewaltigen Budgets ihre Filialen um. Statt des Palettenverkaufs unter fahlem Neonlicht soll Einkaufen bei den sich neu erfindenden Discountern jetzt Spaß machen. Die Konsumenten sollen beim Einkauf verweilen und entspannen.
Trotz solcher Aussagen bleiben die Discounter ihrer Linie treu: Mehr als 1.000 bis 1.200 Artikel soll das Basissortiment nicht umfassen. Dafür ergänzt eine Vielzahl von Aktionsartikeln vom Angelzubehör bis zum Heimwerkerbedarf das Sortiment. Man fragt sich zwar, wer den ganzen Plunder braucht, doch die Discounter würden es nicht anbieten, gäbe es keine Käufer dafür. Mit einem Vollsortimenter von Rewe und Edeka können sich die Filialen dennoch nicht messen, dazu fehlen Auswahl, Servicetheken, Frischeangebote und Beratung. Auch wenn es in Zukunft bei Aldi und Lidl Obst und Gemüse als lose Ware gibt, Service findet meist in Form von Automaten statt. Der Mensch als Servicekraft ist den Discountern zu teuer.

Der zumindest oberflächliche Wandel des Discounthandels ist unübersehbar. Ging es früher allein um den Preis für Billig- und Massenware, wandeln sie sich zu Nahversorgern, die alles haben: Aber der Kunde bekommt nur scheinbar die gleiche Ware und das was er wirklich braucht. Wer genau hinsieht, erkennt neben wenigen Markenprodukten Imitate in Hülle und Fülle. Eigentlich verwunderlich, dass sich viele Markenanbieter so einfach kopieren und die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Discounter kennen kein Tabu, ob Größe, Form oder Farbe, ob Glas, Karton oder Folie bis hin zu den Etikettenformen soll alles an das Original des Markenartikels erinnern, auch wenn sie frech von Billigproduzenten imitiert werden. Illusionen sind auch der Antrieb für die Befriedigung vermeintlicher, in Wahrheit künstlich initiierter Konsumbedürfnisse. Qualität, ein Gespür für Stil und eine sinnvolle Lebensgestaltung gibt’s nicht umsonst, und so bekommt der Kunde weder bei Wein noch bei den meisten anderen Konsumgütern das Original oder einen echten Gegenwert geboten. Das Weinregal liefert anschauliche Beispiele, oder glaubt jemand im Ernst, er bekäme für 2,79 Euro eine fünf Jahre gelagerte Gran Reserva, für 1,99 Euro eine Spätlese, die den Namen verdient, für 1,49 Euro einen originalen Wein aus Rumänien oder für 4,99 Euro einen Lugana vom Gardasee? Da mag das Outfit des Ladens noch so schick erscheinen, die Konsumenten lassen sich vom Schein gefangen nehmen und kaufen »alten Wein in neuen Schläuchen«. Der Glaube an Illusionen und die Befriedigung von Bedürfnissen, die künstlich erzeugt werden, scheinen beherrschende Phänomene unserer Zeit zu sein.

Hermann Pilz
Chefredakteur WEINWIRTSCHAFT
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