Ausgabe 15/2018

So geht einkaufen
Titel WW15/18

Kaum mehr jemand im Laden. Bis auf ein paar Gynoiden oder die noch seltener anzutreffenden Androiden ist es angenehm ruhig. Mit kaum vernehmbarem Surren huschen sie durch die Gänge, sorgen für Nachschub, bedienen im Service oder putzen. Ja, so wünscht man sich einkaufen. Niemand, der einem an der Fleischtheke die nächste Nummer vor der Nase wegschnappt oder in lästiger Üppigkeit eine Schlange vor den Kassen bildet. Unsere neue Einkaufswelt ist clean, wohlgeordnet und digitalisiert. Hochtechnisiert, gehört unvollkommen Menschliches zur babylonischen Verwirrung und zum Schmuddel früherer Jahrzehnte. Mit meinen »Smart Glasses« finde ich mich spielend zurecht, und der Einkaufswagen folgt willig auf Schritt und Tritt. Waren, die ich kaufe, nehme ich statt vier- nur zweimal in die Hand. Was für ein Fortschritt! Per Scan laden sich die Daten auf mein »Smartphone«, was den Bezahlvorgang an der Kasse auf Sekunden reduziert. Was ich nicht tragen kann oder woanders kaufe, wird geliefert. Ständig bekomme ich nützliche Vorschläge auf meinen mobilen Alleskönner oder per Head-up-Display vors geistige Auge. Die schicke Brille dient mir auch als Wegweiser, und schon nach wenigen Minuten schlägt sie mir für meine Bedürfnisse einen optimierten Laufplan vor. Sie weiß sogar, wann es Zeit ist, auf die Toilette zu gehen, denn mein »Activity Tracker« kennt meinen Körper besser als ich selbst. Nach ein paar Einkäufen ahnt der Ladenalgorithmus, was es bei mir zu essen und zu trinken gibt und was ich an Zutaten brauche. Dazu kaufe ich billig und schnell. Ständig bekomme ich Infos, was der Käse oder der Rotwein aus Italien, den ich gerne zur Pasta genieße, woanders kosten würden. Aber ich weiß ja, am Ende kaufe ich hier gut und günstig ein. Denn alles ist miteinander vernetzt, und eigentlich gibt es auch nur noch diesen einen großen »Smart«-Konzern, der sich aus allen anderen gebildet hat. Er ist der große Bruder, der smarte Partner in allen Lebenslagen. Ständig werde ich aufgeklärt über Inhaltsstoffe, die nachhaltige Erzeugung der Produkte oder günstige Angebote. Zwischendurch schnarrt mein Kühlschrank mit neuesten Nachrichten aus dem Kühlfach, denn der ist so programmiert, dass er weiß, wann der Salat alle, die Milch ausgetrunken oder die Weinflasche leer ist. »Instore Marketing« und »Grab’n’go« sind die neuen Zauberworte, mit denen sich die großen Händler aus der Stein- und Mörtelzeit beschäftigen und damit ihrem eigenen Untergang entgegenstreben. Omnichannel ist Standard und das Smartphone wird zur Allzweckwaffe, wenn es um Informationen, Orientierung, Auswahl, Kaufen und Bezahlen geht. Unsere ganze Einkaufswelt wird revolutioniert. Viele Dienstleistungen übernehmen Roboter in Menschengestalt, die uns in Kürze so vertraut sein werden und in jeder Hinsicht menschlichen Ersatz bieten. Sie glauben, das ist Phantasterei? Die Realität ist eine andere: Der Handel und die großen Consumer-Konzerne von Alibaba über Amazon bis Ikea beschäftigen sich intensiv damit und der eine Weltkonzern ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Sache hat nur einen Haken: Wir müssen mitspielen und eine Menge von uns preisgeben, denn ohne unsere Daten geht nichts. Aber was heißt hier Daten? Die sind eigentlich uninteressant.

Es geht um unsere Gewohnheiten, unsere Wünsche und Bedürfnisse. Es geht darum, menschliches Verhalten zu lenken. Ob wir wollen oder nicht, wir werden immer mehr fremdgesteuert. Die Ergebnisse politischer Umfragen beeinflussen Meinung und Wahlverhalten. Mehr als bisher müssen wir zu gläubigen Menschen werden. Eine ganze Industrie an Agenturen und gleichgeschalteten Informationsverwertern ist schon heute damit beschäftigt, die Welt schön zu malen. Täglich müssen wir unzähligen Zertifikaten, Berichten und juristischen Vereinbarungen zustimmen. Prüfen können wir sie schon lange nicht mehr. Ich habe ein Gegenrezept: Ich fröne gerne meinem Nichtglauben und freue mich jedes Mal, wenn ich mich verweigern kann. Und Sie?

Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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