Ausgabe 11/2018

Radikaler Schnitt
Titel WW11/18

Was tun, wenn das Alter der Käufer im Schnitt bei 66 Jahren angelangt ist, die Discounter und Vollsortimenter die Kunden mit Aktionsweinen und Niedrigpreisen locken und der Weinhandel im Top-Bereich immer stärker in den Online-Sektor abwandert? Den Kopf in den Sand stecken? Die Firma begraben und besseren Zeiten hinterhertrauern? Das ist nicht die Sache von Dieter Freisler. Der Schwabe aus dem Neckartal weiß, dass eine gründliche Analyse her muss, in die alle Mitarbeiter eingebunden werden und dass erstmal Fragen zu beantworten sind: Was haben wir gemacht und warum haben wir es so gemacht? Was erwartet ein Kunde von einem modernen Weinunternehmen? Wie muss der Vertrieb zukünftig aufgestellt sein, um den Kundenwünschen auch in Zukunft gerecht zu werden? Die gewonnenen Erkenntnisse gipfelten in zwei Veränderungen, die radikaler in einem Unternehmen nicht sein könnten: Das Unternehmen ändert seinen Namen und richtet das komplette Geschäftsmodell neu aus.

Das erinnert an die Ursprünge der Firma. In den goldenen Wirtschaftswunderjahren entwickelten Elmar und Kuno Pieroth ihr Direktvertriebsunternehmen Ferdinand Pieroth. Wein konnte man damals verkaufen wie warme Semmel. Vor allem auf dem Land waren die Besuche der Pieroth-Vertreter eine gerne gesehene Abwechslung vom Alltag. Einen Lebensmittelhandel wie heute gab es nur rudimentär und Wein allenfalls in elitären Weinhandlungen. Die Welle lieblicher deutscher Weine traf den Geschmack des kittelschurzberockten Publikums. Das Geschäftsmodell ließ sich exportieren und Pieroth wuchs auch dank unorthodoxer Geschäftsmethoden im In- wie im Ausland. 

Zum Knockout für das Unternehmen wurde der Glykolskandal von 1985. Von heute auf morgen brach der Absatz ein. Der Name Pieroth war verbrannt, und mehr Zufällen und dem Einsatz weniger Manager war es zu verdanken, dass das Unternehmen als WIV-Gruppe auferstand. Es folgte ein zweites Leben. Das Geschäftsmodell war ja nicht tot. Bis irgendwann in den 90er-Jahren die Akzeptanz kippte. 

Die Discounter und später das Internet veränderten komplett die Verhältnisse im Handel. Der persönliche Kontakt des Weinvertreters im Wohnzimmer des Kunden, wurde immer mehr zur Ulk-Nummer. Eigentlich unverständlich: Wo alle Welt über personalisiertes Marketing und direkte Kundenkontakte faselt, genau zu dieser Zeit bricht das Geschäftsmodell ein, läuft aus, endet in der beziehungslosen Wüste orientierungsloser Einpersonenhaushalte? Als ich von der Veränderung im Unternehmen erfahren habe, wurde mir rasch klar, hier findet eine historische Wende statt. Das Unternehmen geht konsequenter als viele andere einen neuen Weg und der heißt: Omnichannel. 

Radikaler Schritt Nummer eins: Alle Bereiche firmieren unter einem Dach: Die Weinberater, die es nach wie vor geben wird, werden als Markenbotschafter persönlichen Kontakt zur Kundschaft halten und Events managen. Die Shops und Lofts sollen im Laufe der Jahre eine bundesweite Einheit bilden. Sie sind Gastronomie, Weinshop und Treffpunkt zugleich. Online-Handel und die Servicebereiche um Hotelproben, Messen und Reiseveranstaltungen vereinen sich mit den übrigen Vertriebskanälen zu einer Einheit. Radikaler Schritt Nummer zwei ist der neue, alte  Name, mit dem das Unternehmen zu seinen Wurzeln zurückkehrt. »Pieroth – The Wine Company« zielt auf internationale Märkte, wird aber auch in Deutschland verstanden. Radikalität Nummer drei: »Pieroth Blue«. Eine einheitliche Farbe bis hin zu einigen Gutsweinen prägt in Zukunft das Design. Jetzt wird mancher sagen: Die sind übergeschnappt. Blaue Flaschen sind entwertet, billig, verbraucht. Ich sage, es kommt auf den Inhalt an, und der muss den Kunden schmecken. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, warum nicht? Dazu hat sich Freisler eine Hintertür offen gelassen: »Wir starten mit 80 Prozent, den Rest passen wir mit der Zeit an.« Das lässt Raum, an einzelnen Stellschrauben zu drehen.

Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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