Ausgabe 06/2014

Infantilisierung

Marken haben mehr denn je ihre Berechtigung: »Wer zu höheren Preisen Wein vermarkten will, muss sich einen Freiraum durch Differenzierung schaffen.« Damit ist es allerdings noch lange nicht getan. Umfassende Verfügbarkeit, anerkannte Qualität, Aufmachung, Preisstellung und Kommunikation sind entscheidende Elemente, die eine Marke schaffen. Das will erstmal geleistet sein. Selbst gestandenen Markenartiklern wie den markenorientierten Wein- und Sektkellereien fällt es schwer, der Übermacht des Handels zu trotzen. Die Discounter und viele andere aus dem Lebensmittelhandel verhämmern in schöner Regelmäßigkeit bekannte Sekte für unter 2 Euro oder bieten Markenweine einen Euro unter dem regulär kalkulierten Preis an. Von Markenführung könne man nicht wirklich sprechen, meinte jüngst ein Mitarbeiter eines Mafo-Instituts. Um sich dem Marken- und Preisverhau entgegen zu stellen, bedarf es kluger Strategien und vor allem einer gehörigen Portion Selbstbeschränkung. Wie Odysseus den Sirenen muss der Markenanbieter dem schnellen Wachstum des Absatzvolumens über den Preis widerstehen. Limitierung und qualitatives statt quantitatives Wachstum sind die Schlüsselwörter. Nur dann kann es gelingen Preis, Qualität und Einzigartigkeit aufrecht zu halten. Die Bedeutung der Marke haben inzwischen auch viele Weingüter erkannt und kehren folgerichtig staatlichen Differenzierungssystemen mehr und mehr den Rücken. Deren Problem ist, dass sie dem Weinerzeuger weder einen geschützten Bereich, also eine Differenzierung bieten, noch die Anforderung der Preishoheit erfüllen. Bei atomisierten Märkten wird sich immer einer finden, der den Wein noch billiger liefert. Das Versagen staatlicher Differenzierungssysteme, ob sie nun schlecht geraten sind oder schlecht gemacht wurden, ist ein weltweit zu beobachtendes Phänomen oder Problem. Im Bereich der Weinbezeichnung standen sich lange zwei grundsätzliche Konzepte gegenüber: die geborene Qualität, wie es das romanische Weinrecht und Länder wie Frankreich oder Italien kennen, und die geprüfte Qualität, die das deutsche Weinrecht prägte. Kunstvoll wurden im deutschen Recht horizontale Herkunfts- und vertikale Qualitätsdifferenzierungen miteinander verwoben. In der heutigen Angebotslandschaft haben beide Differenzierungssysteme ihre Bedeutung weitgehend verloren. Kleinere Herkunftsangaben als das Anbaugebiet spielen bei weniger als 20 Prozent der in Rheinland-Pfalz geprüften Weine eine Rolle. Bei ausländischen Weinen verhält es sich nicht anders. Vom gesamten deutschen Weinimport von 15 bis 16 Mill. Hektoliter entfallen nur 20 Prozent auf Ursprungsweine. Auch staatlich verbriefte Qualitätskategorien spielen inzwischen eine vollkommen untergeordnete Rolle. Deutlichstes Zeichen, dass staatliche Qualitätssysteme ihre Bedeutung verloren haben, liefert der Umgang des Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter mit der deutschen Bezeichnungssystematik: Die gesetzlich definierten Prädikatsstufen wurden bei einem Großteil des Angebots glattweg abgeschafft und das von einem Verband, der das Wort »Prädikat « im Namen führt. Was nun folgt, ist mit Fug und Recht als abenteuerlich zu bezeichnen: Vielen scheint erst jetzt bewusst zu werden, dass Sortimente eine kommunizierbare Differenzierung benötigen und kreieren auf eigene Faust eine Fülle an Submarken. Diese stiften noch mehr Verwirrung als zuvor. Die Beispiele reichen von gerade noch erträglich bis Wahnsinn: »Ursprung« oder »Urstrom« mag man ja noch akzeptieren, aber bitte wozu den »Urschrei« ausstoßen, das »Unerhörte« sagen oder den »Urbullen « röhren lassen. Da hole ich mir doch den »Tageslohn «, lass den »Spatz« lieber »Tollkühn« über den »Magic Mountain« fliegen und suche anschließend statt dem G-Punkt den »G-Max«. Geht es noch? Welcher Kunde erinnert sich denn an solche Namen außer auf dem gepflasterten Hof des Erzeugers. Es greift eine unsägliche Infantilisierung um sich. Auf der Strecke bleiben sinnvolle Informationen, etwa woher der Wein wirklich stammt. Wenn‘s eine Lage ist, dann will ich‘s wissen und was die Qualität betrifft keine Sterne, Pünktchen oder Buchstaben wie in der Suppe zählen. Auf Dauer braucht der Kunde solche Weine nicht, denn ihre Differenzierung ist Schein statt Sein.

Hermann Pilz [email protected]