Foto: Ralf Ziegler/AdLumina
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Stefan Nink übt sich im Zuhören

Neulich saß ich in einem Provinzkaff im Norden Kanadas fest. Der Flughafen wurde nur von kleinen Propellermaschinen angeflogen, aber die konnten nicht landen, weil die Wolken zu tief hingen, also drehten die Piloten jedes Mal wieder ab. Mehrere Tage lang ging das so. Und ich musste warten. Im einzigen Hotel war ich der einzige Gast. Wenn ich zwei Stunden nach meinem Check-out desillusioniert vom Airport zurückkam, suchte Evelyn an der Rezeption jedes Mal umständlich nach einem freien Zimmer, bevor ich wieder jenen Raum bezog, den ich kurz zuvor verlassen hatte. Ich hätte Glück, meinte sie beim dritten Mal, in der Saison wäre so ein Hin und Her überhaupt nicht möglich, da sei man ausgebucht, über Monate.

Keine Ahnung, ob Evelyn tatsächlich Evelyn hieß. Sie hatte Dienst, als ich das erste Mal einzog und erzählte mir ihr komplettes Leben, während ich das Meldeformular ausfüllte. Dass sie der Liebe wegen in den Norden gezogen sei, aber dann sei ihr Mann verstorben, und jetzt sei sie hier, ganz allein. Evelyn redet sehr schnell, bereits nach fünf Minuten war mir ganz komisch. Dann kam zum Glück ihre Ablöse, nennen wir sie: Mary. Evelyn verstummte augenblicklich. Die beiden können sich nicht leiden, das merkte man sofort. Als Evelyn weg war, fragte Mary, ob ihre Vorgängerin mir eben ihr ganzes Leben erzählt habe. Das mache sie nämlich bei jedem Fremden, es sei so rücksichtslos! Mary informierte mich dann schnell darüber, dass der Polizeichef eine Affäre mit der Tankstellenbesitzerin habe. Und ob ich wüsste, dass der Pastor heimlich trinke? Und dass ... Irgendwann gelang mir die Flucht in mein Zimmer.

Mary wurde nach der Nachtschicht von Ann abgelöst, die vermutlich nicht Ann heißt. Sie sprach kaum ein Wort mit mir. Stattdessen setzte sie sich morgens immer mit ihrer Gitarre in die Lobby und schmetterte „Me and Bobby McGee“, immer und immer wieder und so laut und falsch, dass man nicht im Hotel bleiben konnte, zumindest nicht bis zum frühen Nachmittag. Dann hatte Ann Feierabend, und Paula kam.

Paula machte keinen Hehl daraus, dass sie ihre Mit-Rezeptionistinnen nicht leiden konnte. Evelyn würde alle nerven mit ihren Stories, Mary lästere immerzu und Ann – ach Gott, müsse man zu der noch was sagen? Paula schüttelte den Kopf. Sie fragte unvermittelt, ob ich ihre Eisbergfotos anschauen wollte, und noch bevor ich „später“ erwidern konnte, drehte sie den PC-Monitor zu mir um und zeigte mir die 265 schönsten Fotos der Eisberge, die im Sommer an der Küste entlang treiben. Nach 138 Eisbergen kam Ann zurück, weil sie ihren Schirm vergessen hatte. Als Paula sie mit einem giftigen „Was willst du denn um diese Zeit hier?“ zur Rede stellte, lief ich schnell in mein Zimmer.

Eines Abends saß statt Evelyn ein fremder Mann an der Rezeption. Er nickte mir wortlos zu, als ich zum Abendessen ging, in das einzige Restaurant des Ortes. Außer mir waren nur vier andere Gäste da: Evelyn, Mary, Ann und Paula. Sie spielten Karten, tranken Wein und hatten offenbar ziemlichen Spaß zusammen. Im Fernsehen kündigte der Wettermann für den nächsten Tag einen wolkenlosen Himmel an.

 

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Ausgabe 03/2024

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