Foto: Ralf Ziegler/AdLumina
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Stefan Nink schlaflos im Nachtzug

Seinen Namen habe ich vergessen. Er hat sich vorgestellt, hat seine Uniform gerade gestrichen, die Mütze zurechtgerückt und mir die Hand geschüttelt. Auch an die Namen seiner Frau und den ihrer Schwester kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß aber noch sehr genau, wie sie damals eintrafen. Die Tür wurde aufgerissen, ein Schaffner bellte etwas ins Abteil – aber da war ja nur ich. Dann kamen zwei Soldaten herein. Sie schauten unter die Matratzen, sie zerrten an den Bettgestellen, sie kontrollierten die Plastikverschalungen der Wände, und gingen wieder hinaus.

Meine Mitreisenden betraten das Abteil: der General, mit Gattin und Schwägerin. Nennen wir ihn Wang. Und bezeichnen wir ihn als General – seine Uniform war mit gewaltigen Epauletten ausgestattet, und an seiner linken Brust prangte eine DIN-A5 große Sammlung kleiner Fähnchen und Orden.

Wie ich wollte auch er mit diesem Zug nach Turpan, eine Oasenstadt an der chinesischen Seidenstraße. Außer „wife“ und „sister“ sprach er kein Wort Englisch. Und ich kein Chinesisch. Jetzt fuhren wir also durch die Wüste, und der General musste arbeiten. Er nahm Papier, Tinte und Füllfeder aus seiner Aktentasche. Leider rumpelte der Zug ziemlich heftig, und die Zeichen rutschten hin und her auf dem Papier. Nach ein paar vergeblichen Versuchen ging er zur Tür und donnerte einen Befehl hinaus in den Flur, worauf sogleich mehrere Soldaten angerannt kamen und salutierten. General Wang schrie seine Untergebenen an, diese nahmen die Schreibutensilien und verschwanden.

General Wang holte eine Flasche aus seiner Reisetasche und zwei Zahnputzbecher. So kam ich zu meinem ersten Glas Schnaps mit der chinesischen Militärführung. Die nächsten Stunden erklärte mir General Wang die politische Großwetterlage in dieser strategisch bedeutsamen Region, zumindest vermute ich das. Er redete jedenfalls ununterbrochen. Und schenkte ununterbrochen nach. Gattin und Schwägerin kehrten zurück und rollten sich in ihren Betten zusammen, draußen fiel die Dunkelheit wie ein Vorhang.

Der General dozierte weiter. Irgendwann begann die kleine Abteilwelt, seltsam undeutlich zu werden. Und ich beschloss, sofort mindestens zwölf Stunden zu schlafen. Zehn Minuten später waren die zwölf Stunden vorbei. Frau Wang hatte den Deckenventilator angeschaltet und damit einen Wirbelsturm ausgelöst. Sie stellte den Ventilator wieder ab. Zwei Minuten war es relativ ruhig, dann begann der General, sich mit Hilfe chinesischer Liebeslieder in den Schlaf zu singen. Nach einer Reihe sentimentaler Weisen rissen zwei Soldaten die Abteiltür auf und überreichten ein Telegramm.

Der General las das Telegramm, bellte einen Befehl und ging zurück ins Bett. Beinahe augenblicklich begann er laut zu schnarchen. In den folgenden Stunden betraten immer neue Personen die Bühne unseres Abteils, um kurz darauf wieder zu entschwinden. Zwei Schaffner räumten sämtliche Taschen aus den Gepäckfächern, um an einen Karton zu kommen. Jemand riss die Tür auf, leuchtete mit einer Taschenlampe die Betten ab und bemerkte seinen Irrtum erst, als General Wang ihn zurechtstutzte. Irgendwann waren dann auch in den Nachbarabteilen alle wach.

Mittags erreichten wir Turpan, und die Wangs verabschiedeten sich. Auf den General wartete eine militärische Eskorte. Auf mich wartete niemand. Ich lief in die Stadt und buchte mich im erstbesten Hotel ein. Dann schlief ich endlich, bis zum nächsten Morgen schlief ich.

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Ausgabe 03/2024

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