Wo Hören und Sehen vergehen…

Sebastian BordthäuserIch sitze gut 10.525 Kilometer vom heimischen Küchentisch entfernt im Humboldtstrom und trinke kaltes Witbier und Mandarinensaft. Sommerzeit, und das Leben ist luftig, leicht und süß. Klappt man den Rechner auf, kippt die Stimmung schnell. Man kann die Uhren stellen nach dem immer gleichen Genörgel und Gemoser. Der Nachbar würde einen Weber Grill kaufen für Unsummen, aber nur Würstchen von Lidl darauf grillen. Ein anderer gäbe absurd hohe Beträge für sein Motoröl aus, würde seinem eigenen Betriebssystem aber nur minderwertige Ölderivate zweifelhafter Herkunft zu selbstredend hanebüchen niedrigen Preisen vom absolut verachtenswerten Discounter zuführen. Ein Leben auf kleiner Flamme. Und dann noch dieser grauselige Wein. Wenn die Leute doch nur fünf  Euro mehr ausgeben würden für die Flasche. Stattdessen söffen sie hemmungslos Aperol Spritz auf den Terrassen der Welt – Bilder eines nie dagewesenen Kulturverlusts. 

Dieses unerträgliche Gutmenschen­geplapper liest man jahrein, jahraus. Spätestens wenn der Nachbar gutmeinend eine Flasche einfachen Rosé auf den Tisch stellt, weil man seinen Gästen etwas anbieten möchte, wird das sofort zerredet. Dieses weinerliche Masturbat ist in seiner gräulich moralinsauren, schalen Art keinen Deut besser, als die Ermunterung meines Nachbarn, doch einfach 35.000 Euro mehr in mein Auto zu investieren, dann habe man auch etwas Vernünftiges. Gleiches Spiel, gleicher Ansatz. Nur: Mein Nachbar tut das nicht. Das schätze ich an ihm und trinke gerne noch ein zweites Glas von dem schrecklichen Rosé, mit Eiswürfeln geht das ganz wunderbar.

Dieser ganze missionarische Wahnsinn führt zu nichts weiter. Neulich spät nachts, nach ganz viel Scheißwein, haben wir an unserem Tisch in einer Gruppe von zehn Leuten ein Gedankenspiel durchgespielt. Die Frage lautete: Wärt ihr lieber taub oder blind? Die meisten wären lieber taub, auch wenn man sich damit der Welt der Akustik, der Musik und den daraus resultierenden, grenzenlosen Emotionen verschließt. Stille. Das Argument, Blindheit sei die einzige Einschränkung, die durch Hilfsmittel wie Hunde oder Stöcke eine weitere Teilhabe am normalen Leben gestatte, oder sogar Konzepte wie Rassismus entkräfte, ließ niemand zu. 

Bis jemand aus der Gruppe folgenden Ausweg einwarf: Er würde am liebsten auf Riechen und Schmecken verzichten, denn Hören und Sehen seien absolut höherwertig. Und hier kommt die Überraschung: alle stimmten zu. Nur ich hatte wieder mal schlechte Laune. Der größte Teil des menschlichen Genoms entfällt auf das olfaktorische und gustatorische System, biologischer Hard Fact – geschenkt. Die Nahrungsmittelprüfung durch das olfaktorische System hat unser Überleben gesichert, unsere Hirne wurden größer und wir letztlich zum Menschen. Bindungen, nicht nur zur Mutter, sondern zur Familie, zum Rudel, basieren darauf – egal. Die Wurzel unserer Existenz, nicht wichtig, schließlich haben wir 3-D-Brillen und können jederzeit Achterbahn fahren. Ich war kurz fassungslos und schaufelte noch eine Handvoll Eis in meinen Rosé. Dann dachte ich, schöne Erfahrungen muss man teilen, wie mein Nachbar seinen Scheißwein. Probiert es aus. Aber legt vorher ein paar Flaschen Rosé kalt.

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote