Reife im Wein? Mehr Mut zur Entschleunigung

Martin KösslerMartin Kössler bricht eine Lanze für Reife im Wein. Zu dem Thema gibt es viel zu sagen. Hier Teil I.
 
Reife. Einst begehrtes Faszinosum im Wein. Heute scheint man sich reifen Wein nicht mehr leisten zu wollen. Auch Deutschland, dieses uralte Weinkulturland, hat sich der Beschleunigung im Wein ergeben. Es ist noch nicht lange her, da waren gereifte Flaschen Zeichen der Kompetenz eines seriösen Weinhandels. Heute heißt es, kaum hat man mal ein paar ältere Flaschen im Sortiment, »Na, hast Du wohl nicht losgekriegt?« Weinlager müssen sich blitzschnell umschlagen, für Zeit im Wein ist heute keine Zeit mehr. Moderne Internetweinhändler feiern sich so oder ähnlich: » ... wir suchen für unsere Kunden im wöchentlichen Rhythmus eine ständig wechselnde Auswahl feinster Weine aus ... durch den schnellen Wechsel im Sortiment können Sie nach und nach die phantastische Vielfalt des Weines entdecken. Ein stets neues Sortiment ist wesentlich kostengünstiger zu handhaben, weil teure Lagerkosten, aufwändige Verwaltung und vieles mehr wegfallen. Den Preisvorteil, der so entsteht, geben wir direkt an Sie weiter! Einfacher können Sie die besten Weine dieser Welt nicht erleben!« 
 
Was für eine Weinwelt, in der schneller besser sein soll. Phantastische Vielfalt? Tatsächlich geht es um Einfalt, bietet man dem Kunden doch meist nur auf maximale Rendite für die Investoren zugeschnittene Schnelldreher, befeuert von entsprechenden Bewertungen und »exklusivem« Preisvorteil. Reife, Entwicklung, Potenzial und Qualitätskriterien sind im derart modernen Weinhandel kein Thema. Nur ein Beispiel dafür, wie banal und schnell er geworden ist. Heute laufen schon gut 70 Prozent aller Weinverkäufe über das Selbstbedienungsregal. Dort stehen ausschließlich primärfruchtige Pubertierlinge, die den Sex der Jugend schnell verlieren. Kein Wunder, dass ihre Käufer kein Verhältnis zur Reife im Wein entwickeln.
 
Doch selbst Kunden, die für Wein Geld auszugeben bereit sind, fehlt inzwischen oft die Erfahrung mit Reife im Wein; sie reklamieren zum Beispiel große deutsche Rieslinge, die ihren Zenit noch lange nicht erreicht haben, als »hinüber«. Die uralte Kultur der Reife im Wein wurde dem Jugendwahn und seinem schnellen Umschlag geopfert. Doch wer die Geschichte von Wein als seine Entwicklung nicht kennt, kann die Qualität der Gegenwart nicht beurteilen. Da setzt sich ein verhängnisvoll geschichtsloser Kreislauf in Gang, und das ausgerechnet in einer Zeit, in der engagierte Winzer in aller Welt kompromisslos und mutig Qualitäten produzieren, die ein Potenzial versprechen, wie es Wein seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Helfen Sie mit, die Faszination der Zeit im Wein wieder zu beleben, damit Wein nicht nur gut ist, wenn er banal schnell ist.

01-24

Themen der Ausgabe

PANORAMA

Wie schmeckt die Zukunft Frankens?

PROFILE

Bibraud - kreativ und innovativ in Ulm

PROBE

Bairrada und Dão - Portugals feinste Rote