Ausgabe 04/2018

Haltung mit Hirn

Meiningers Sommelier 04-18

Ein Winzer ist unter den landwirtschaftlich arbeitenden Menschen wahrlich in einer privilegierten Lage. Kaum ein anderer „Bauer“ kann seine Botschaft so unmittelbar zum Adressaten, dem Verbraucher, übermitteln. Der abgefüllte Wein ist schließlich ein finales, fertiges Produkt, das nicht weiter verarbeitet werden muss. Sein Geschmack verkörpert die Haltung des Erzeugers. Überbringer der Botschaft ist der Sommelier, und je mehr er über den Wein, die Herkunft, die Philosophie des Winzers weiß, umso präziser kann er die Information an den Gast und finalen Konsumenten weitergeben. Bei sonstigen landwirtschaftlichen Produkten ist es anders. Der Koch bearbeitet und verarbeitet diese Produkte, er fügt sie durch gefühlvolle Kombination von Aromen und Texturen zu einem komplexen Gericht zusammen. Der beste Fisch aus dem saubersten See der Welt ist nur die Hälfte wert, wenn der Koch den Garpunkt nicht trifft, das gesündeste, schmackhafteste Gemüse kann zu Brei verkocht werden, der hochwertigste, aromatischste Pfeffer kann falsch dosiert ein Gericht ruinieren, das Fleisch eines ethisch einwandfrei aufgezogenen und stressfrei geschlachteten Tieres kann zäh oder trocken werden, allein durch den falschen Zuschnitt.

Das ist beim Wein genauso und wird in letzter Zeit oft vergessen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ein lebendiger Boden, größtmöglicher Verzicht auf Chemie, nachhaltige, sehr gerne auch biodynamische Bewirtschaftung der Weinberge, das alles wurde viel zu lange viel zu wenig beachtet. Ein Paradigmenwechsel war längst überfällig. Doch die Gleichung lebendiger Boden und ökologische Bewirtschaftung gleich guter Wein ist Schwachsinn. Denn nachhaltig erzeugte Trauben in perfektem Gesundheitszustand zu ernten ist nun einmal nur die halbe Miete. Es ist wie beim Koch, der Lebensmittel zu einem Gericht weiterverarbeitet. Natürlich braucht er hochwertige Grundprodukte, um ein Spitzenergebnis zu erzeugen. Doch das Handwerk gehört eben auch dazu. Ein Winzer kann ein noch so guter Bauer sein. Wenn er kein Gespür für den Jahrgang, für die richtige Behandlung der Trauben und des Mostes, den Ausbau der Weine besitzt, die Intuition, den sich entwickelnden Wein in die richtige Richtung zu leiten, werden auch aus den schönsten, ökologisch wertvollsten Trauben schlicht und einfach untrinkbare Weine. Die Önologie zu vernachlässigen, oder gar als Teufelswerk zu verdammen, ist ein großer Fehler. Leider ist es heute en vogue, von einem Extrem ins andere zu verfallen. Ein guter Sommelier sollte diesen Fehler nicht begehen. Haltung ist wichtig, Hirn aber auch. 

Sascha Speicher
Chefredakteur MEININGERS SOMMELIER
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