Ausgabe 01/2016

GUT DING BRAUCHT ZEIT

MEININGERS SOMMELIER Ausgabe 01/2016

Als wir das Verkostungsthema für diese Ausgabe festlegten, merkten wir schon, wie schwierig die Definition ist. Klar war von Anfang an, welche Art von Weinen wir probieren und stilistisch wie qualitativ vergleichen wollten. Individuelle, deutsche Weine, die bewusst langsam und mit möglichst wenig Eingriff des Winzers hergestellt werden. Weine, bei denen der Winzer bewusst auf die Primärfrucht zugunsten von Komplexität, Struktur, Textur und Langlebigkeit verzichtet, Weine, bei deren Gärung nicht computergesteuert die Gärtemperatur gelenkt wird, Weine die lange auf der vollen Hefe reifen, die sich frei entwickeln und ihren eigenen Charakter entfalten dürfen. Viele schlaue Köpfe der Weinwelt haben schon nach Begriffen dafür gesucht. Martin Kössler prägte vor Jahren den Begriff der langsamen Weine, Peter Müller sprach beim Sommelier Summit einmal von Weinen, die zugelassen statt gemacht werden.

Doch eine präzise Abgrenzung ist schwierig. Sie würde ja gerade jene Individualität und Freiheit einschränken, nach der wir suchen. Klar ist, dass Orangewines, also maischevergorene Weißweine, zu diesem Feld gehören. Natürlich auch die „Naturweine“, bei denen der Winzer konsequent jede Art von Zusätzen und Eingriffen – von Reinzuchthefen, über Enzyme, Tannine, Schönungsmittel, Klärhilfen bis hin zur Filtration und dem Konservierungsmittel Schwefel – ablehnt. Am vereinfachten Festmachen des Begriffs „natural wine“ an der Schwefelung störe ich mich allerdings sehr. Und überhaupt: Was für eine Anmaßung, zu behaupten, nur ein minimal oder gar nicht geschwefelter Wein sei „natürlich“. Im Gegenteil, manchmal könnte man heulen, wenn man merkt, wie ein mit Hingabe auf ehrliche Art erzeugter Wein nach der Abfüllung kläglich dahinoxidiert, nur weil er nicht ausreichend konserviert wurde. Das muss nicht zwingend Schwefel sein. Es gibt sehr wohl auch ungeschwefelte Weine die stabil sind, wie unsere Verkostung zeigte.
Wie gut individuelle Weine sich als Begleiter auch komplexester Speisekompositionen eignen, zeigte einmal mehr Marco Franzelin, den wir im Vendôme besuchten. Die Idee: Er sollte zu jedem Gang des Menüs von Joachim Wissler zwei komplett unterschiedliche Weine als Begleitung auswählen, klassisch und avantgardistisch, modern und traditionell. Dabei zeigte sich, wie großartig auch Klassiker bei Tisch funktionieren können. Am Ende sind es der Reiz der Abwechslung und die Vielfalt, die Wein so aufregend machen.

Sascha Speicher
Chefredakteur MEININGERS SOMMELIER
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