Trotz hohe Online-Nachfrage, Experten sagen, dass der Onlinehandel mit Lebensmitteln nach Corona wieder abnehmen wird. (Foto: Pixabay)
Trotz hohe Online-Nachfrage, Experten sagen, dass der Onlinehandel mit Lebensmitteln nach Corona wieder abnehmen wird. (Foto: Pixabay)

Lebensmittel: Online-Boom nicht nachhaltig

Die Management- und Technologieberatung  BearingPoint und der Think Tank, das IIHD Institut, beleuchten das Potenzial des Online-Lebensmittelhandels in Deutschland.In einer Studie wird aufgezeigt, wie die Schwächen der großen Lebensmittelanbieter innovativen Start-ups neue Handlungsspielräume eröffnen.

Wachstumssegment Online-Lebensmittelhandel

Der Online-Lebensmittelhandel gilt als das Wachstumssegment des Handels mit prognostizierten durchschnittlichen Wachstumsraten von weltweit knapp 25 Prozent pro Jahr bis 2027 (Grand View Research 2020). Neben China (mit 31 Prozent) verzeichnet dabei insbesondere Deutschland mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 24 Prozent besonders starke Wachstumsraten im Online-Food-Einzelhandel. Trotz der hohen Wachstumsraten zeigt ein näherer Blick jedoch, dass der Online-Lebensmittelhandel gemessen an seinem Anteil am gesamten Lebensmittelhandel in Deutschland bisher kaum von Bedeutung ist. Selbst bis 2023 wird der Online-Lebensmittelhandel in Deutschland kaum einen Anteil von mehr als 1,5 Prozent am gesamten Lebensmittelhandel erreichen, sagen Handelsexperten.

Online-Lebensmittelhändler haben den "Praxistest COVID-19" nicht bestanden

Der Online-Lebensmittelhandel zählt zu den großen Gewinnern der COVID-19-Pandemie, sagen die Studienmacher. Die Angst vieler Konsumenten vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 hätte dazu geführt und führe dazu, dass viele Konsumenten Interaktionen mit Mitmenschen meiden und daher auch für den Lebensmittel-Einkauf erstmalig auf den Online-Kanal zurückgreifen. In der Folge führte diese Entwicklung dazu, dass bereits in der zweiten März-Hälfte die Zahl der Online-Lebensmittelkäufe in Deutschland mit einem Plus von 142 Prozent auf ein Allzeithoch angestiegen seien (verglichen mit dem Vorjahreszeitraum vor der COVID-19-Pandemie). Damit eröffne sich für den Online-Lebensmittelhandel ein unerwartetes Zeitfenster, um Neukunden zu gewinnen und diese von den Vorteilen des Online-Lebensmittelhandels zu überzeugen, sind Bearing Point und das IIHD-Institut überzuegt.

Initialzündung bleibt aus

Die Initialzündung, das heißt eine nachhaltige Ausprägung neuer Verhaltensmuster bei den Konsumenten, scheine jedoch auszubleiben. "Zwar könnten die Rahmenbedingungen für den Online-Lebensmittelhandel vor dem Hintergrund der Pandemie kaum besser sein, die eigentliche Motivation der Konsumenten für den Online-Einkauf von Lebensmitteln liegt jedoch weniger in den Wettbewerbsvorteilen dieses Modells, sondern vielmehr in der reinen Notwendigkeit der Kontaktreduktion begründet und spricht daher vielmehr für einen temporären Effekt. Der zentrale Grund für den Online-Einkauf von Lebensmitteln wird deshalb nach überstandener Pandemie wieder entfallen", so Kay Manke, Partner bei BearingPoint und Retail-Experte.

Außerdem zentrale Schwachstellen auf Anbieterseite

"Darüber hinaus offenbarte der abrupte und rasante Anstieg der Nachfrage im Online-Lebensmittelhandel als unmittelbare Folge der COVID-19-Pandemie unverblümt zentrale Schwachstellen auf der Anbieterseite, die ebenfalls gegen einen langfristigen Effekt sprechen. Insbesondere betrifft dies die unzureichenden Logistikkapazitäten sowie die hohen Kosten für die "letzte Meile"-Belieferungen in ländlichen Gebieten mit geringerer Bevölkerungsdichte und damit einhergehend die fehlende landesweite Abdeckung. Dies zeigt, dass viele Händler schlichtweg (noch) nicht in der Lage sind, die sich auftuende Gelegenheit zu nutzen und eine so plötzlich ansteigende Nachfrage zu bedienen", fügt Prof. Dr. Jörg Funder, Geschäftsführender Direktor IIHD Institut, hinzu. Auf Konsumentenseite führte dies zu enttäuschten Erwartungen, insbesondere bei Kriterien, die eigentlich als grundlegende Stärken des Online-Handels gelten: Versand und Lieferung, Produktverfügbarkeit und Preis. Insbesondere die höheren Preise stellten ein hohes Enttäuschungspotenzial auf Konsumentenseite dar, sagt Funder. So hätten lediglich drei Prozent der Kunden die Preise im Online-Lebensmittelhandel als angemessen empfunden, was auf ein zentrales strukturelles Problem des Online-Lebensmittelhandels hindeute, dem langfristig nur durch grundlegende Anpassungen der Geschäfts- und Betriebsmodelle begegnet werden könne.

Fünf grundlegende Anpassungen bestehender Geschäfts- und Betriebsmodelle unausweichlich

"Ein nachhaltig erfolgreicher Online-Lebensmittelhandel wird nur gelingen können, wenn dieser auch für die Handelsunternehmen auf einem profitablen Geschäftsmodell aufbaut. Die bloße Erweiterung des stationären Vertriebs um den Online-Kanal, ohne dabei die zentralen, erfolgskritischen Stellschrauben zu verändern, wird dabei langfristig kaum zum Erfolg führen - wie die letzten Jahre eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben", so Kay Manke.

Vielmehr werden laut Studie fünf grundlegende Anpassungen bestehender Geschäfts- und Betriebsmodelle unausweichlich:

1. "Click-&-Collect" als Zukunftsmodell: Aufgrund der strukturellen Herausforderungen, der Ressentiments auf Konsumentenseite sowie der bislang fehlenden notwendigen Logistikstrukturen und hohen Kosten auf der Anbieterseite ist ein flächendeckender Durchbruch von "Home Delivery"-Modellen in naher Zukunft tatsächlich nicht zu erwarten.

2. Filialen werden zu dezentralen, automatisierten Mikro-Fulfillment-Centern: Lebensmitteleinzelhändler werden gezwungen sein, ihr gesamtes Filialnetzwerk zu hinterfragen und neue Rollen für bestimmte Filialen zu definieren.

3. Neue Pricing-Modelle - Mehrwertleistungen erfordern Gebühren: Um den Online-Lebensmittelhandel nachhaltig profitabel betreiben zu können, müssen neue Pricing-Modelle entwickelt werden.

4. Daten werden erfolgskritisch: Der Online-Lebensmittelhandel bietet Anbietern erstmalig die Möglichkeit, mithilfe des Geschäftsmodells Licht in eine bislang anonyme Geschäftsbeziehung zwischen Kunde und Händler zu bringen

5. Customer Experience - Kunden von den Mehrwerten überzeugen: Um den Online-Lebensmittelhandel zu forcieren, müssen die Anbieter ihrem Online-Erlebnis emotionale Werte beifügen

Newcomer punkten mit innovativen Geschäftsmodellen

Während die etablierten stationären Lebensmitteleinzelhändler kaum über die "ersten Gehversuche" im Online-Lebensmittelhandel hinausgekommen seien, eröffneten die Schwächen der großen Anbieter innovativen Start-ups neue Handlungsspielräume. So scheine der Online-Lebensmitteleinzelhandel - zumindest in Deutschland - aktuell nur für spezialisierte Online-Pure-Player ohne den herkömmlichen Kostenapparat lukrativ zu sein, die sich nicht alleine über den Preis positionieren und meist keine eigene, teure "letzte Meile"-Logistik vorhalten. Diese Newcomer wie beispielsweise Querbeet, Kaufnekuh oder auch Etepetete fokussieren sich fast ausschließlich auf nachhaltig hergestellte und gesunde Produkte und nutzen dabei den Trend zum nachhaltigen Konsum. Sie zeigen, dass der Online-Lebensmittelhandel in Marktnischen bereits funktionieren kann.

"Mit ihren innovativen Konzepten verschaffen sich die Newcomer zunehmend einen Vorsprung gegenüber den etablierten Anbietern und nutzen dabei das infolge der anhaltenden COVID-19-Pandemie entstehende "Window of Opportunity", das durch die zunehmende Bereitschaft der Konsumenten zur Nutzung des Online-Lebensmittelhandels gekennzeichnet ist. Den "Proof-of- Concept" haben die Newcomer bereits geliefert - es gilt nun zu zeigen, dass ihre innovativen Geschäftsmodelle auch flächendeckend und unter den strukturellen und konsumentenspezifischen Herausforderungen nachhaltig profitabel betrieben werden können", so Prof. Dr. Jörg Funder.  //pip

GZ 09/24

Themen der Ausgabe

Titelthema: Gleisanschluss

Industrie und Getränkefachgroßhandel nehmen die Schiene ins Visier. Dekarbonisierung und Personalmangel drängen zum Umdenken. 56 Organisationen haben zu Beginn des Jahres die „Charta für die Schiene“ unterschrieben. Die Zeit drängt, denn der Gesetzgeber verlangt bis 2030 eine CO2-Reduktion von 40 Prozent gegenüber 2018. Die Crux: eine marode Bahn.

Aktuelles Interview: Maximilian Huesch

Maximilian Huesch ist Logistikexperte, Beirat und geschäftsführender Partner bei Huesch & Partner. Im Interview mit der GZ macht der Profi deutlich, vor welchen Herausforderungen die Branche steht, den Verkehr aufzugleisen.

Gastkommentar: Marcus Vollmers

Marcus Vollmers ist Geschäftsführer der Get N GmbH & Co. KG in Langenhagen, einem bundesweiten Zusammenschluss regional marktführender Getränke-Fachgroßhandelsunternehmen. Im Gastkommentar erklärt der Geschäftsführer, welche Vorteile eine stärkere Nutzung des Schienenverkehrs in Bezug auf Nachhaltigkeit und Bewältigung des Fachkräftemangels bieten.