Ausgabe 20/2017

Zahlenkünstler
Titel WW 20/17

Überall auf der Welt machen sich Unternehmen fit für die Zukunft. Digitalisierung ist das Stichwort. Alle Prozesse werden auf den Prüfstand gestellt und nach Schwachstellen durchforstet. Im Handel reifen revolutionäre Pläne, ob man nicht irgendwann ganz auf stationäre Läden verzichten kann. Es klingt wie Zukunftsmusik, wie Science Fiction aus einer anderen Zeit. Doch wer einmal in die angelsächsischen Länder blickt, entdeckt, dass dort kräftig an der Zukunft gebastelt wird und vollkommen neue Versorgungsketten im Entstehen sind. Ob das alles sinnvoll ist weiß niemand, prüft auch niemand, da die, die daran glauben und die Modelle inszenieren, nicht die Zeche bezahlen. Das laden sie auf die Schultern anderer ab und sind dann längst über alle Berge oder retten sich wie der rotzfreche ehemalige Vorstandschef der Immobilienbank Hypo Real Estate, Georg Funke, in die Verjährung. Für die 17 Mrd. Euro Schulden ist die Allgemeinheit aufgekommen, jeden einzelnen von uns hat das gekostet. In Deutschland werkeln alle großen Händler eifrig an neuen Geschäftsmodellen, und manches wirkt so kurios und aufgesetzt, dass man sich nur wundern kann, ob die Verantwortlichen nicht den Verstand verloren haben. Die Edeka-Zentrale in Hamburg bastelt derzeit an einem nationalen Webshop, der zu nichts anderem führen wird, als dass die derzeitigen Stützen des Konzerns, die selbständigen Einzelhändler, irgendwann obsolet werden. Da sollen wohl die jetzt noch Lebenden ihr eigenes Grab schaufeln, die Zentrale groß machen und anschließend verschwinden. Wer kommt auf solche Ideen?
An der Digitalisierung kommt niemand vorbei, logisch, das zeigen die bisherigen Erfahrungen. Und den Amazons, Alibabas und Venture-Capital-getriebenen Start-Up-Youngstern den Markt überlassen, wollen die arrivierten Händler, die sich mit Ware, Frische, Finanzierung und Personal auskennen, auch nicht. Der richtige Weg wäre also, die Selbstständigen einzubinden und in die Lage zu versetzen, dass sie am wachsenden Online-Geschäft mit Nahrungs- und Genussmitteln teilhaben. Sie könnten die Logistikpartner und Abholstationen sein. Doch das sind Konzepte, die nicht in das Preis- und Personaldumping der gesamten Online-Branche passen. Die Fehlentwicklung zieht sich durch alle Branchen und auch im Weinhandel hat noch keines der größeren Online-Unternehmen schwarze Zahlen geschrieben. Einer der Großen der Branche schiebt einen Verlustvortrag von rund 10 Mill. Euro vor sich her. Wie soll das gehen? Um einen solchen Berg abzutragen, würde man einen Umsatz mit Wein im Volumen von 50 Mill. Euro benötigen und müsste dann eine  Spanne von immerhin 20 Prozent erwirtschaften, um nur allein von den Schulden runterzukommen. Erstaunlich, dass es immer noch Menschen gibt, die ihr Geld in solche Abenteuer stecken. Aber gehen Sie zur Bank. Als Handwerker, Händler oder Selbständiger bekommen Sie kein Geld, doch mit einer auch noch so kruden Geschäftsidee aus dem Internet-Business wird ihnen Geld förmlich hinterher geworfen.
Wer in der realen Wirtschaft verwurzelt ist, Risiko auf sich nimmt, reale Güter produziert und verkauft, weiß, wie beispielsweise die badischen Weinerzeuger, dass es unendlich schwer ist, wirklich Geld zu verdienen. Der Durchschnittserlös aller badischen Winzergenossenschaften belief sich in 2016 auf 3,18 Euro pro Liter (Sie haben richtig gelesen 3,18 Euro), der Gesamtumsatz summierte sich auf 262,5 Mill. Euro.
In den genossenschaftlichen Unternehmen werkelten 980 Mitarbeiter, was wohl Personalkosten von rund 50 Mill. Euro verursachen dürfte oder rund 20 Prozent des Umsatzes verschlingt. Das ist sicher auch notwendig, aber wirtschaftlich? Im ersten Halbjahr 2017 sanken die Durchschnittserlöse auf 3,14 Euro pro Liter. Bis Jahresende erholt sich das wieder. Entwarnung gibt es deswegen nicht. Die Lage bleibt prekär. Mit 3,18 Euro wird die badische Weinwirtschaft keine Zukunft haben. Genauso wenig wie die Zahlenkünstler des Internethandels mit ihren Streichpreisen, die nie und nimmer Deckungsbeiträge von 20 Prozent und mehr erwirtschaften.

Hermann Pilz
Chefredakteur Weinwirtschaft
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